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[137] 6.IV.15.


Liebste, gestern abend kam Dein lieber guter Brief vom 1. IV. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr und ganz ich mit Deinen Ideen gehe und besonders künftig gehen will. Es macht mich auch stolz, daß Du errätst, daß ich vieles von dem, was Du sagst, schon immer als tiefen Grundsatz, vor allem in meinem Verhältnis zu andern Menschen, in mir getragen habe. Gerade diese Geistesrichtung hat sich in mir während dieser Kriegszeit außerordentlich gestärkt. In meinem Verhältnis zur Kunst dachte ich, oder besser gesagt: fühlte ich auch immer so, aber ich handelte nicht immer danach; das weiß ich, daß ich erst noch dazu kommen muß. Der selbstquälerische Schaffensprozeß ließ mich so viele Umwege gehen, die vielleicht nicht nötig waren und meinem Schaffen mehr Hemmungen bereiteten als Förderung und Reinigung. Hier muß ich umlernen, d.h. vom reinen Lernen zum reinen Fühlen kommen und mich immer mehr auf das reine Gefühl verlassen. Ich glaube fest, daß es mir leicht wird, wenn ich wieder heimkomme; die Zeit hat mich so vieles gelehrt, mehr und vor allem anderes, als Du denkst und aus den Aphorismen schließen zu können glaubst. Gerade sie sind für mich, sowie sie jetzt mir in der Erinnerung erscheinen, eine Art Abrechnung, ein zum Schlußkommen einer unendlich langen, mich seit Jahren quälenden Denkarbeit; das Ergebnis scheint Dir ›äußerlich‹; wörtlich genommen ist es wohl auch äußerlich; aber das äußerliche Ergebnis kann doch nach innen schlagen; ich erhoffe es jedenfalls, auf Grund des Befreiungsgefühles, das ich jetzt so oft habe. Es hilft nichts, hier viele Worte zu machen; man dreht sich dabei nur im Kreise, da man mit Worten keine Werke vorwegnehmen kann. Das ›lebendige Gefühl‹, von dem Du immer sprichst, versteh ich jetzt so gut; ich werde ganz in ihm leben und an nichts sonst denken. Die Arbeitszeit, die mir bleibt, ist zu kurz, um sie an die ›Welt‹ zu verschwenden. Was ich in Artikel I schrieb, scheint mir noch immer nicht ›ein wahrer Trost‹, wie Du ihn zu nennen scheinst, sondern seine einzige und wahre Erklärung, trotz allem und allem. Gerade, was mit Dir und mir als Resultat erzeugt wird, beweist mir an einem kleinen Beispiel, daß ich nicht fabuliere mit dem Leidensopfer und der Reinigung. Kam[insky] hat wohl insofern Recht, daß der Krieg jetzt doch nichts anderes ist als die bösen Zeiten vor dem Kriege; was man vorher in der Gesinnung begann, begeht man jetzt mit Taten; aber warum?[137] Weil man die Verlogenheit der europäischen Sitte nicht mehr aushielt. Lieber Blut als ewig schwindeln; der Krieg ist ebensosehr Sühne als selbstgewolltes Opfer, dem sich Europa unterworfen hat, um ›in's Reine‹ zu kommen mit sich. Alles, was drum und dran ist, ist gänzlich äußerlich und häßlich; aber die hinausziehenden und die sterbenden Krieger sind nicht häßlich. Da trügt Dich Dein Gefühl, weil Du nicht weit genug fühlst. Sieh lieber ganz weg vom Krieg, so gut es Dir möglich ist, wenn Du sein ›Bild‹ nicht ertragen kannst, aber erkläre ihn nicht für eine – Dummheit! Denn das bedeutet nicht: dem Krieg in's Gesicht sehen, sondern: nichts sehen, wo doch etwas ist und zwar etwas sehr Großes und Furchtbares. Dank für die lieben Blumen im Brief; sie freuen mich immer so. Einliegend Brief von Lisbeth; ... Auf Kaminsky freu ich sehr. Was Du von seiner Wohnung sagst, ist so nett. Hoffentlich kommt er heil zurück. Was macht eigentlich Deine Stickerei? Du schriebst lange nichts mehr davon. Auf die bin ich nämlich sehr neugierig.


Forts. am 8.IV.15.


Gestern erhielt ich Deinen langen Brief, der so klar und gut alles sagt, was Du meinst; ich antwortete Dir gleich mit einer kurzen Karte, die Dir meine freudige Zustimmung sagte. Es wundert mich eigentlich, daß Du mich immer noch dahin verstehen willst, daß nach mir Kunst: Form sein soll, was gewiß falsch ist. Form ist die natürliche Folge eines Gefühls, wie die Hal tung und Gebärde die Folge und Äußerung eines Charakters ist. Ein wirklicher Charakter denkt auch nicht: ich muß mich so oder so halten, benehmen, kleiden, – er tut es eben. Das ist für ihn Selbstverständlichkeit, sogar Unbewußtheit. Im Ursinn und Prinzip ist es in der produktiven Kunst auch so, sicher z.B. in der primitiven Kunst, (z.B. mein Negerbeil), in der byzantinischen, vormexikanischen u.s.w. Mit der modernen Kunst (der ›modernen Menschheit‹), ich denke mir sie ungefähr ab 14. Jahrhundert, begann der sogenannte ›Fortschritt‹, ein ungeheures, auch heute noch lange nicht abgeschlossenes Streben nach Erkenntnis mit allen Krankheiten, Eitelkeiten, aber auch allen Wundern Europas. Dein Eindruck ist so wahr, den Du in der Pinakothek hattest: es gibt in der europäischen Kunst ganz ganz wenig völlig reine Bilder. Fast überall steckt die Grimasse der Eitelkeit oder der Pedanterie, der rationalistischen Überlegung, der Frivolität und selbst bei den besten: das Allzupersönliche (was sich in früheren Jahrhunderten in der sogenannten ›Schule‹ ausdrückte, das Meisteratelier.). Die ›keusche Majestät‹, die mir vorschwebt, ist genau die Abkehr von all diesen Grimassen. Aber ich sehe wohl ein, daß ich immer zu sehr von einer formalen Abkehr geredet habe, während sie nur im Lebens-Gefühl vor sich gehen kann. Wenn man mich verstehen will (d.h. auf dem Boden steht, auf dem Du jetzt stehst), kann man mich schon auch in[138] Deinem Sinn verstehen; z.B. bei Aphorismen über das Was und Wie. Deutlich genug rede ich hier, daß nur der Inhalt (Lebens-Inhalt) wesentlich ist, das Wie ganz gleichgültig, oder besser gesagt: die Folge des Inhaltes (Gefühles). Im Grunde stehe ich mit meiner Sehnsucht von jeher auf diesem guten Boden; immer träumte ich von unpersönlichen Bildern; ich hab eine Abneigung gegen Signaturen. Ich hab auch gar nie das Verlangen, z.B. die Tiere zu malen, ›wie ich sie ansehe‹, sondern wie sie sind, (wie sie selbst die Welt ansehen und ihr Sein fühlen). So vieles in mir kommt Deinen Ideen entgegen, auch in den Aphorismen; nur hab ich mich sehr mangelhaft und unfertig ausgedrückt; es fehlt in ihnen der innere Drehpunkt; ich bin mir erst jetzt durch Deine Briefe klargeworden, wie ich alles sagen müßte. Der Tolstoi ist noch nicht angekommen, aber der famose Atlas, der ganz das ist, was ich wollte. Schönen Dank. – Über den Krieg denk ich immer noch nicht anders. Es erscheint mir einfach flau und unlebendig, ihn als etwas Ordinäres und Dummes zu nehmen. Artikel II [Aufzeichnungen Nr. 28, d. Hrsg.] kannst Du mir mal schicken; ich bin ganz zufrieden, wenn er nicht gedruckt wird. Die Gedanken über das Europäertum sind halb; wie Du ganz richtig sagst: auch noch zu sehr hinter dem europäischen Zaun, und eigentlich nicht meine Sache. Das ist mir der Haupt grund, ihn nicht zu drucken. – Mit den Glasbildern hast Du recht. Der Durchschnitt ist wohl ›unpersönlich‹ und insofern rein, aber statt des tiefen, bewegenden Gefühls ist ein Schema der direkte Ursprung der einzelnen Bilder. Da dieses Schema aber von tiefen, intuitiven (Volks-)Schöpfungen abgeleitet ist, behält es für uns doch noch einen gewissen Kunst- und Gefühlswert. Du weißt, warum ich mich oft so sträubte, schwache aufzuhängen. – Wir haben momentan äußerst unruhige und schwere Tage, – Du wirst es an der Sprunghaftigkeit meiner Briefe merken; sie sollen Dir nur meine tiefe Zustimmung ausdrücken. Ich verarbeite und erlebe diese ›Erneuerung im Geiste‹ mehr, als es die Briefe merken lassen. Vor allem möchte ich Dir einmal über die ›Natur‹ schreiben (die letzten Aphorismen). Hier handelt es sich mir nur um das Lebensgefühl, das Wie ist mir dabei ebenso gleichgültig als unklar, – es wird kommen, wenn ich in diesem merkwürdigen Gefühl male. Wenn ruhige Tage kommen, versuche ich mal, davon zu schreiben. Ich weiß nicht, ob ich kann, gerade weil es sehr und ganz Gefühlssache ist, ein neuer Liebes-Instinkt der armen Natur gegenüber. Kuß und noch mehr Kuß Dein Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 137-139.
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