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[143] 18.IV.15


Liebste, ich hab den Tolstoi jetzt vollständig (aber gewiß nicht zum letztenmal) gelesen und habe genau wie Du das unbeirrbare Gefühl, daß in dem Buche ›die Wahrheit‹ oder wollen wir sagen: ›eine große Wahrheit liegt‹. Sie für uns oder für die Allgemeinheit, wie ich die ›Allgemeinheit‹ fühle, aus diesem Buche herauszuschälen ist eine ungeheuer schwere und verantwortungsvolle Aufgabe, an der bis jetzt noch sehr wenig geschehen ist. Das ist kein Vorwurf für Tolstoi; sein Buch ist eine moralische Riesenleistung, und es ist im Grunde selbstverständlich, daß er als Einzelmensch bei dieser Arbeit, bei der ihm niemand geholfen hat und die er mit den einseitigen Kräften seiner zufälligen Begabungen und Schwächen lösen mußte, einseitig und allzu persönlich vorgegangen ist. Ein einzelner Mensch kann das Problem gar nicht erschöpfend und allgemeingültig wie einen Codex festlegen. Ich habe, um einen Maßstab für die Tolstoi-Gedanken zu gewinnen, z.B. das Evangelium Markus gelesen, das herbste der 4 Ev. Lies z.B. einmal das 4. Kapitel! (Vers 12!) und das unheimliche 5. (V. 30 u.s.f.) und 7. Kapitel (ab Vers 14 und Vers 24!). Es sind nicht einzelne Dinge oder Einwendun gen gegen Tolstoi, die ich damit vorbringen will, nur den Maßstab der Qualität seiner Ideen; Tolstoi wirkt, nachdem man diese Kapitel in ihrer atembeklemmenden Großartigkeit gelesen hat, merkwürdig soziologisch, Weltverbesserer, Glücksschwärmer. Er sieht das ›Reich Gottes‹ merkwürdig friedlich-ackerbaulich, als Glücksstaat an, und noch mehr als: anständigen Vernunftstaat. Tolstoi ist gegen Jesus gehalten ein ganz schwacher Menschenkenner; er hat seinen Idealtyp, und einen anderen kann er sich vernünftigerweise nicht vorstellen; aber die ›Welt ist tief; und tiefer als der Mensch gedacht‹. Das ist nicht Mystizismus von mir (oder Daumier oder Klee oder Archipenko – ich denke an die paar ganz ersten Sachen von ›uns‹), sondern das ist unser heiligstes[143] Lebensgefühl. Es ist einfach töricht, von solchen Menschen sagen, daß ihre Kunst ›nur um einer weniger krankhafter Mäzene willen, die so einen Kitzel bezahlen‹, geschaffen wurde. Tolstoi verwechselt eine an sich gewiß schädliche und unsittliche Begleiterscheinung mit den Ursachen der Dinge. Mit dieser Forderung verdirbt er vieles in seinem Buch. Etwas anderes ist es, wo er behauptet, daß wir ›verbildet‹ sind, Krankheits- und Dekadenzprodukte unsrer Zeit. Darüber denk ich jetzt viel nach. Ich glaube, man darf diese Behauptung ebensowenig vorschnell und stolz zurückweisen als sie leichtsinnig bejahen. Daß ›exklusi ve‹ Künstler wie Daumier, van Gogh und Hokusai sich in ihrem tiefen Weltgefühl in Einigkeit begegnen oder z.B. der tiefe Hang der modernen Sucher, durch das ›Abstrakte‹ allgemein Gültiges, Einigendes auszudrücken (denn diese Tendenz liegt unbedingt in unsern den andern, die stets bisher den persönlichen Einzelfall in der Kunst zu suchen gewöhnt waren, so rätselhaften Werken), – das ist vielleicht eine ebenso wichtige und große Sache als die Einigung von hunderttausenden auf die Melodie von ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ oder die rührenden Volkslegenden und Märchen. Ich dränge mein Gefühl hier gar nicht zu einer raschen und gründlichen Entscheidung, die nur das Produkt eines Lebenswerkes und vollen Lebens sein kann und nicht das Resultat des ›gesunden Menschenverstandes‹, an den Tolstoi immer wieder appeliert. Andrerseits: So unendlich viel, was Tolstoi sagt, ist so unbedingt wahr, unabweislich, daß man absolut nicht daran vorbeigehen kann. Z.B.S. 245/246 über die moderne Roman-Literatur und Musik. (›Jede Melodie ist frei und kann von allen verstanden werden; aber kaum ist sie mit einer gewissen Melodie verbunden und durch sie verbaut, so wird sie nur Menschen, die sich mit dieser Harmonie bekannt gemacht haben, zugänglich u.s.w.‹) Oder: ›nehmen Sie bei den besten Romanen unsrer Zeit die Einzelheiten fort und was bleibt dann übrig?‹ Das gleiche ist von den Impres sionisten zu sagen. Die allermeisten legen das Gewicht auf das Wie und nicht auf das Was. Und bei uns Kubisten etc. ist das leider noch mehr wahr, gewiß mehr wahr, als wir es uns eingestehen wollen. Wir müssen es uns aber in jedem Fall offen eingestehen. Dieser Gedanke wird mich von nun stets beim Arbeiten und beim Nachdenken über meine und fremde Arbeit beherrschen. Der einzige Künstler unsrer Tage im Sinne Tolstoischer Volkskunst ist und bleibt natürlich Rousseau, wenngleich dem reinen Geiste nach van Gogh gewiß nicht weniger Anspruch auf diesen Ehrentron hat. Aber v. Gogh ist ja mit wenigen Porträtausnahmen für die Menge gänzlich unverständlich!! Warum? Meine Antwort ist: weil es nicht wahr ist, daß alle Gefühle allen gemeinsam und verständlich sein müssen. Der Mensch ist kein einmal festgelegter Typus, mit dem man so einheitlich und über einen Leisten verfahren kann, sondern unterliegt ganz der Wandlung und der [144] Rangordnung, die die physikalische Natur in allen ihren ›Betrieben, Werkstätten‹ anwendet, um etwas zu fördern und um wachsen zu können. Differenzierung und Absonderung scheint mir eher gerade der Schlüssel der menschlichen Lebensenergie zu sein. Aber ich kann darüber nicht mit sowenig Worten reden. Jedenfalls ist für mich das christliche, das Jesus-Problem viel komplizierter, dunkler und herzensschwerer, als Tolstoi es aufzufas sen scheint. Rousseau ist richtige christliche Volkskunst, Meister Bertram auch. Grünewald, Greco, Delacroix wirken neben diesen sehr affektiert und unehrlich und in ihrem Aufwand von großen und kleinen Mitteln unnötig. Könnte diese Unstimmigkeit des Nebeneinander nicht davon herrühren, daß man 2 Welten mit ganz verschiedenen Maßverhältnissen mit gleichem Maßstab mißt? d.h. mit dem Tolstoi-Maßstab des Einen? Laß Dich nicht verleiten, all diese Fragen zu einschichtig zu nehmen. Die Welt hat viele Schichten. Der Mensch ist in der weiten Natur ebenso Übergangsprodukt wie das Tier oder die Pflanze; wenn er die Liebe, gegenseitige Achtung und Hilfe als größten einigenden Lebensgrundsatz allmählich annimmt, so tut er das wahrscheinlich auch aus der inneren Not seiner Entwicklung. Aus Michelangelo (den Tolstoi unbedingt verpönen muß), Hölderlin, Beethoven, Cézanne spricht eine unendliche Weltliebe, Drang nach Verständigung; aber jeder hatte seinen Maßstab; der Adler kann keine Spatzen anführen, – er fliegt ihnen mit drei Flügelschlägen davon.

In manchem hat Tolstoi natürlich auch über die Großen gewiß richtig gedacht; z.B. den späten Beethoven in gewissen Werken; mir schwebt da besonders das berühmte Cis-moll-Quartett vor, das ich zweimal (von Joachim und später, glaube ich, von den Böhmen) hörte. Mir wurde es jedesmal langweilig, weil es mir ganz künstlich gemacht schien. Das erstemal dachte ich natürlich, daß ich zu dumm bin, es aufzufassen; das zweitemal schwor ich mir, es nicht ein drittesmal anzuhören; es ist inhaltlich fad und in eine künstliche Stimmung und ungeheure Breite gebracht. Jetzt würde ich es natürlich erst recht noch einmal hören, um mein Urteil zu prüfen. Gänzlich unverständlich ist mir, wie man den erotischen Einschlag in reinen Kunstwerken, wie dem Violinkonzert, Kreutzersonate, 7. und 9. Symphonie, Michelangelo, die Griechen u.s.w. so hassen kann wie Tolstoi es tut. Wie kommt er dazu, da überall das Geschlechtlich-Häßliche zu sehen? Das ist auch krankhaft von seiner Seite; am Ende traut er sich auch einmal nicht mehr durch einen Blumengarten zu gehen. Gegen eine solche Auffassung wende ich mich mit aller Leidenschaft. Dieser Punkt läßt mich sehr zweifeln an der Gesundheit Tolstoischen Denkens. Der erotische Witz sowohl wie der erotische Erregbarkeit und Leidenschaft sind Grundelemente des menschlichen Fühlens (gerade des einfachen, geraden Menschen), die man nicht durch christliche Liebe zudecken oder abschnüren [145] kann und darf und soll. – à propos: ich bin Vizewachtmeister – nichts andres. Deine übrigen Befürchtungen sind ganz grundlos. Walden bat um äußersten Preis von gelb. Kuh; ich schrieb ihm den Netto-Kriegs-Preis für mich: 900, gänzlich unver bindlich für später. Wenn in diesen Zeiten jemand kauft, würde es mich für diesen Preis nur freuen. – Gute Nacht, mit einem Kuß Dein Fz. M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 143-146.
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