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[146] 27.IV


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Die Siegesnachrichten dieser Tage regen mich ungeheuer auf. Jetzt muß es vorangehen. Die Frühlingstage sind fabelhaft. Gestern führte ich meinen Wagen wieder in der Mondnacht vor; fast der ganze stundenlange Weg ist überdacht von blühenden Kirschbäumen; die schweren weißen Zweige wiegen sich so seltsam im Nachtwind; ich muß oft an die längst entschwundenen Blütennächte am Athos denken! Ich bin glücklich, die schmerzliche Melancholie jener Jahre überwunden zu haben; damals stand wirklich das dumme Ich im Mittelpunkt aller Gefühle, – heute hat das Ich zu horchen und wach zu sein, ohne Selbstansprüche. Ich lese jetzt den Tolstoi nochmals mit großer Aufmerksamkeit und lege Dir ab und zu Zettel in die Seiten [Aufzeichnungen und Schriften Nr. 29, d. Hrsg.]. Mein erster Eindruck wird nur bestärkt: Seine Gedanken bergen die für uns entscheidende Wahrheit, aber seine Vernunft-Logik ist ein ganz unzulängliches Werkzeug, diese Wahrheit herauszustellen und zu definieren. Er arbeitet mit einer gesunden praktischen Lebenslogik, die ihn da, wo er sie auf wirklich geistige Probleme anwendet, ganz in die Irre führt. Dazwi schen leuchten immer wieder echte Wahrheiten, die aber wie Kometen zufällig die Bahn seiner logischen Schlüsse streifen, ohne inneren Zusammenhang. Du wirst mich schon verstehen, wenn Du das Buch mit meinen Bemerkungen nochmals liest. – Ich lege Dir einen Zeitungs-Wisch über Händels. Oratorien bei, – vielleicht regt er Dich zum Nachlesen und Nachspielen im Auszug an. Daß Hanni wirklich trägt, ist köstlich. Bring ihr möglichst viel Durcheinander von Strauchzweigen und Waldgrün mit; frag auch Niestlé eventuell wegen gewissen Wurzeln u.s.w. Die Tiere suchen sich in solchem Zustand gewiß bestimmte Nahrung zur Milcherzeugung etc., Klee, Berberitzen, Haselnuß u.s.w. Könnt ich doch dabei sein!! Aber ich bin jetzt voll Zuversicht. Mit liebem Kuß Dein Fz. Grüße allseits!

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 146.
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