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[150] 25.VI.15


Liebste, heut kam Dein langer guter Bleistiftbrief. ... Aber niemand darf sich im Glauben, dem ›Wesentlichen‹ näher zu sein, überheben; ich bin immer noch lieber gegen andre gutgläubig als gegen mich selbst. In einer Sache täuschst Du Dich immer in mir: Du denkst, ich sei da und dort ›festgefahren‹. Ich irre und finde das Gleichgewicht nicht, – das ist etwas ganz anderes. Ich habe viel größere, schrecklichere innere Hemmungen als Du; vielleicht weißt Du immer noch zu wenig über mich. Hast Du Dich nie ganz scharf gefragt, was es mit meiner Scheu, – sagen wir: vor ›Penzberg‹ oder vor ›fremden Stuben‹ auf sich hat? Was kann ich machen, daß da, wo Du die Wahrheit, das ›Gewissen‹ siehst, ich noch immer für meine Seele ein unlösbares Problem sehe? Das nennt man nicht ›festgefahren‹, – das ist etwas ganz anderes. Die Wunde dieses Problems fließt, seit ich erwachsen bin; mein ganzes Malertum ist bisher nur ein Lösungs- oder besser: Rettungsversuch aus diesem für mich unlösbaren Problem gewesen. Ich bin Sozialist aus tiefster Seele, mit meinem ganzen Wesen, – aber nicht praktischer Sozialist. Das ist nicht lächerlich und keine Phrase. Wir werden viel darüber reden. Die Zeit des Weltkrieges ist nicht böser als irgendeine Zeit des tiefsten Friedens; der schönste Friede war immer nur ein latenter Krieg; aber der einzelne kann sich befreien und anderen dazu helfen – das ist der Sinn des persönlichen Christentums und Buddhismus und aller Kunst. Das ist natürlich auch wieder unpräzis, vieldeutig und viel zu schnell gesagt; ich finde die richtige Form nicht, es zu sagen; man bedient sich immer festgefahrener Ausdrücke, alter Gedankenformen; eine solche scheint mir auch Deine ›Menschenliebe‹; was ist das? geht sie auf Kosten der Naturliebe? Was lehrt uns die Natur?? Wissen wir, wo der Mensch steht im Natur- und Gottesreich? Unser ganzes Denken, der ganze Mensch muß endlich noch einmal und neu gedacht werden; es hilft nicht und reicht wenigstens heute nicht mehr aus, nur auf Christus zurückzugreifen. Je länger und hingebender man ihn liest, desto vieldeutiger wird er. Schon die Apostellehre begriff ihn nicht mehr und wirkt auf mich ganz epigonenhaft. Meine Gedanken kreisen stets um dies Thema von je und je, wenn ich auch die größten Umwege um das mir noch immer unsichtbare Ziel gelaufen bin. Daß Du die wirklich belustigende[150] Prophezeiung aus Plato auf mein eigenes Denken beziehst, hat mich selbst belustigt. Daß die rein literarische Phantasie Platos in keinem wahren Zusammenhang mit dem jetzigen Kriege steht, ist doch selbstverständlich. Nur das äu ßerliche Zusammentreffen ist wirklich ein verblüffender Witz der Literaturgeschichte der wert ist, kolportiert zu werden. ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 150-151.
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