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[154] 30.VII 15


Liebste,

Was ist Lasker für eine merkwürdige Seele; wie verschieden sind überhaupt die Menschen! Daran muß ich jetzt oft denken. Irgendwo, in irgendeinem letzten tiefsten Punkte mögen sie wohl alle gleich sein, (– Du nennst diesen heimlichen Punkt: Gewissen); ich glaube, dieser Punkt existiert ganz genau und scharf nur vor und nach dem Leben; während des Lebens ist er irgendwie, ein ganz klein wenig, mehr oder weniger von der Stelle gerückt; solange das Leben kreist und das Blut pocht, findet dieser Punkt keine Ruhe; niemand kann ihn genau ins Auge fassen; und die es sagen, täuschen sich. An diesem Ungefähr gehen wir alle zugrunde. Ich bin nicht einmal unruhig bei diesem Bewußtsein; denn es gibt mir eben das Bewußtsein, daß ich lebe, am Leben leide und arbeiten muß, unaufhörlich, gegen das Ungefähr, bis wir sterben. Lasker kann man nicht nur hysterisch oder neurotisch nehmen, – dazu ist sie zu edel begabt; aber sie ist schon längst tot, überwuchert und verwildert, ›entartet‹. – Das Dörfchen, in dem wir sind, heißt Haumont; an den étangs von La Chaussée gelegen; ein Stündchen von Hagéville; zwischen Hagéville und St. Bé noit. Wir haben momentan reinen Feldbau zu betreiben; wir sind ja auch um ein Stück weiter hinter der Front zurück; zwischen zwei Fliegerstationen. Den ganzen Tag surren die Flugzeuge um uns herum; es ist beständig was los in der Luft. Und wenn keine Apparate fliegen, wiegen sich Geier und Weihen und Falken über den Feldern und Sümpfen. Abends ist die Luft voll von dem bekannten Brunnenbacher Moorunken, dem Ruf der Weihen und[154] Käuze. Die Gegend ist sehr waldreich, alles ganz verwildert; es scheint mir sogar, daß es einst künstliche Waldanlagen, Parks von St. Bénoit waren, die jetzt ganz verwachsen sind; ein bißchen wie der Park von Gendrin, in dem wir jagen gingen. Ohne Mückenschleier ist hier natürlich kaum zu schlafen; der meine ist famos; wenn Du genug Zeug hast, fertige noch zwei; ich möchte sie Kameraden schenken. Über Politik mag ich gar nicht mehr reden. Der Krieg geht seinen Gang; keiner kann ihn heute ändern oder kürzen oder verlängern. Auch Amerika nicht. Mir scheint vielmehr, alles was jetzt passiert, hat eine gute innere Logik; die Sozialisten erhalten eine furchtbare Handhabe gegen die ›Regierenden‹. Was heute alles geschieht, werden die Völker nie vergessen; der Boden für die großartigste Bewegung des 4. Standes wird heute bereitet; aber tätig begeistern mich auch diese Vorgänge nicht. Die Kunst zieht eine andere Straße in's ewige Leben. Scharf den ken kann ich heute überhaupt nicht; alles erscheint dämmerig und etwas trunken. Ich ersehne nichts als die Heimkehr. Dank für das gereinigte Besteckchen. Grüß alle herzlich. Mit tiefem Kuß und Streicheln Dein Frz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 154-155.
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