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[156] 12.IX 15


Liebste, heut am Sonntag hat der Kurs ein ganz lustiges Ende gefunden mit einem großen Preisschießen (mit Karabiner und Pistole. Ich erschoß mir den 4. Platz, als Preis ein Lederetui mit Fächern für Papiergeld, – wir sprachen ja einmal davon, – ich brauch also jetzt keins mehr!); daran anschließend ein kleines energisches Jagdreiten über Hürden und Hindernisse und Abschiedsbankett – das ist der Krieg!!! Ende September soll dann das Examen sein (vor fremden Herren); danach dann die für die Beförderung ausschlaggebende Qualifikation. Ich kann nicht sagen, daß mir das Lernen und Arbeiten an den artilleristischen Aufgaben so fad und unangenehm ist, wie es Paul gewesen zu sein scheint; mich hat vieles interessiert; und Examinationen waren mir eher spaßhaft und anregend als peinlich. Sehr leid ist mir, daß die gute Gesellschaft wieder auseinandergeht; hier bleibt nur Diehl, ein Freiherr v. Wachter u. Grützner, der mich gar nicht interessiert. Du sprichst von fehlenden ›Verbindungen‹; das ist natürlich sehr richtig, nach den beiden Möglichkeiten und Annehmlichkeiten hin: schnelle Beförderung oder: angenehmer Heimatposten. Was nicht ist, kann man nicht herzwingen. Ich bin froh, daß ich nicht von Generalstäblern abstamme oder als ›Edelknabe‹[156] in der Pagerie erzogen worden bin wie H.v. Wachter, – und Du wohl auch. Lieber verzieht ich auf alles und warte gemächlich, bis dieser unglaubliche Krieg herum ist. Eben kommt Dein lieber Brief vom 10. Sept. Ich schrieb Dir schon einmal: ich kalkuliere und prophezeie überhaupt nichts mehr. Ob Zar oder Großfürst – wie soll unsereiner aus solchen Symptomen einen wohldurchdachten, begründeten Schluß ziehen über die wirkliche Lage! Es ist allerdings ärgerlich und blöd, daß man so stumpfe Sinne hat, es nicht zu können! Mein Ausdruck ›Thema‹, als ich vom Krieg als Folge des deutschen Dranges, die kaufmännischen Weltgeschäfte an sich zu reißen [schrieb], hat natürlich nichts mit unserm Kurs zu tun. Ob Deutschland fähig gewesen wäre, ein ›geistiges Gegengewicht‹ zu halten, erledigt sich natürlich so ziemlich durch die Tatsache, daß Deutschland dies eben nicht getan hat, – das ist eben die Tragik des deutschen 19. Jahrhunderts. Wer aber kein Kaufmann und Industrieller werden will, wer das alles haßt, ist und wird heute eben Widersacher, – er darf nicht schweigen. Ich selbst bin jedenfalls ein so vollkommener Deutscher im alten Sinne, einer aus dem Lande der deutschen Träumer Dichter und Denker, das Land von Kant und Bach und Schwind und Goethe und Hölderlin und Nietzsche, – nur mit dem einen Argwohn im Herzen: ob nicht die Slawen, speziell die Russen heute schon bald die geistige Führung der Welt übernehmen werden, während Deutschlands Geist sich in kaufmännischen und kriegerischen und protzigen Händeln unrettbar verschlechtert. Ich kann diesen Glauben an die Russen gar nicht näher begründen; aber irgendein Gefühl flüstert es mir immer zu. ... Meine guten kleinen Rehe! Daß ich diese wunderbare Herbststimmung nun wieder nicht erlebe, die fallenden Äpfel und alles, alles! Grüße Muttchen herzlich, auch K[aminsky]. Mit Küssen und Streicheln Dein Fz. M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 156-157.
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