192

[163] 9.X 15.


Liebste, ist einliegende Karte mit der alten Frau, die in das Kaminfeuer bläst, mit ihrem Hund, nicht erschütternd? ein Schicksalsbild des armen Frankreich. Unser Leben ist umgeben von solchen Bildern. Ich kenne für mein Gemüt nichts Fürchterlicheres als den seltsamen Blick dieser alten, über alle Vorstellung vereinsamten Greise und Großmütter Frankreichs. Die Kirche von Senzey ist auch von einer namenlosen Traurigkeit. Helmuths Karte lege ich auch bei; vielleicht hat er doch das Glück und kommt durch; ich wußte ja, daß dieses Gemetzel im Westen kommen würde. Es hilft kein Reden und Klagen und Anklagen. Es ist ziemlich sinnlos, den paar Regierungsmännern die Verantwortung für dieses Inferno zuschieben zu wollen. Jeder einzelne ist genauso schuldig. Was versteht der einzelne unter ›Frieden‹??: Das begierige Wiederaufnehmen desselben friedenswidrigen, sündlichen Lebens und Strebens, das diesen Weltbrand erzeugt. Die Axt muß an die Wurzel gelegt werden. Ich finde, Du redest Dich in Deiner Trauer und in Deinem Zorn in einen ganz falschen Demokratismus hinein.

Ich verstehe wohl, daß Du Dich zuweilen nach Berlin oder Bonn sehnst, – ich zweifle nur, ob Du Dich jetzt dort wohl fühlen könntest, gar in Berlin!!! Das würde für Dein Gemüt katastrophal enden; Bonn – vielleicht; erholen würdest Du Dich auch dort kaum. Bist Du sowenig Psychologin, um nicht vorauszufühlen, in was für einen Ideengegensatz Du dort hineingeraten würdest?

Mit den Rehchen scheint es ja gottlob besser zu gehen; bestelle mal wieder die Photographie von unserm Häuschen und schicke sie mir. Ich werde hier so oft drum gefragt, wie es aussieht etc. ...

Nun Schluß. Mit vieler, vieler Sehnsucht Dein tr. Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 163.
Lizenz:
Kategorien: