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[174] 1. Dez. 15


Liebste, heut kam große Post von Dir, Briefe vom 19., 24. und 27. (aus München). Nun scheint ja auch meine endlich an Dich zu kommen. Päckchen mit Siegellack ist noch nicht da. Dein guter Brief vom 19. hat mich so sehr gefreut; Du schreibst, daß Dir meine Ideen und das kurze Zusammensein mich Dir noch näher gebracht haben und Du diese Stimmung noch halten möchtest. Mir ist es ähnlich gegangen; und die Lektüre von Em. Quint befestigte in mir diese neue Sicherheit der Seele. Du schreibst in einem Briefe, ich soll Dir noch mehr über mein Lesen im Quintbuch schreiben; ich weiß gar nicht, ob ich das momentan kann. Da gibt es nicht viel zu reden; alles ist rein in diesem Buche; es kennt kein à peu près, kein Ungefähr; und keine Konzession; ich fühle nicht den Urtrieb des praktischen Märtyrertums in mir; aber meine Seele ist zu aufrichtig und klar, um Dilettantismus mit dem Christentum und meinem Gewissen zu treiben. Für mich gibt es nur die eine Erlösung und Erneuerung: wenigstens jedes Ungefähr, jede Konzession nach gleichviel welcher Seite aus meinem Werk zu bannen; den Begriff Quints von der Reinheit, Weltunberührtheit, hat auch keiner seiner Jünger, nicht ein mal Dominik begriffen (sonst hätte er sich nicht getötet, denn damit erleichtert er sich die Verantwortlichkeit seiner Idee und nimmt sich gewissermaßen den Lohn ohne eigene Arbeit im voraus weg; – es wäre dasselbe, als wenn ich an dem Tage, an dem ich voll den Begriff der Reinheit in mich aufgenommen hätte, den Entschluß faßte, nunmehr kein Bild mehr zu malen = ›nicht mehr zu leben‹). Man darf nicht aus Furcht, doch wieder in Unvollkommenheiten zu fallen, die Hände in den Schoß legen; ich verstehe heute zum erstenmal, warum eigentlich auf den Selbstmord dieses Odiosum gelegt wurde: es ist zweifellos der Gedanke, daß man der Verantwortung nicht selbständig – selbstsüchtig vorgreifen darf. Ich schicke Dir das Buch nächstens mit ein paar Büchsen zurück. Über die Möglichkeit einer Rückberufung oder längerem Urlaub zum Arbeiten hab ich noch nachgedacht; ich bin überzeugt, daß ein solcher nur denkbar wäre, wenn ich irgendeinen offiziellen Kunstauftrag bekäme, zu dessen Ausführung ich Urlaub bekäme; ein solcher ist aber doch ausgeschlossen, vor allem ohne Kompromiß, den ich doch nicht eingehe. Warne nur Alfr. Mayer, daß er sich keine Blamage mit mir einbrockt[174] und einen offiziösen Auftrag deichselt, den ich dann hinterher ablehnen muß. Geduld ist alles; nicht wir allein haben das Friedensbedürfnis. Ich freu mich so, daß die gute Hanni wieder gesund ist; ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 174-175.
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