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[179] 6.XII 15.


Liebste, also das arme liebe Schlickchen hat auch seinen kleinen Rehtraum ausgeträumt. Es ist doch eigentlich wirklich so; wenn ich an so ein kurzes Leben eines solchen Tierchens denke, werde ich das Gefühl nicht los, daß es doch nur ein Traum war, diesmal ein Rehtraum, ein andermal ein Menschentraum; aber das, was träumt, das Wesen, das ist immanent, unzerstörbar. Ich hab in diesen Tagen auch einen so merkwürdigen, aufregenden Pferdetod erlebt. Das schönste, feurigste und dabei frömmste Pferd der Kolonne, ein wundervoller, starknackiger Schimmel, ein richtiges Pegasus-Pferd der Sage, ist plötzlich an einer Blinddarmentzündung (es waren Würmer im Blinddarm!) gestorben. Es kam ganz unerwartet; es war kaum 3 Tage richtig krank; die letzten 2 Stunden hatte es große Schmerzen, stöhnte und seufzte wie ein Mensch. Ich hatte dabei das Gefühl, daß es aufseufzte wie ein Mensch, den man aus einem lebhaften Traum aufrüttelt. Kurze Minuten drauf lag ein plumper, häßlich verfallen der Pferdeleib vor mir, – der Pegasus war fort, – man hatte nur die irdischen stinkenden Reste vor sich, die man eingraben ließ, – da fiel mir das ewig denkwürdige, durch Jahrtausende hallende Wort ein: ›laß die Toten ihre Toten begraben!‹ ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 179.
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