214

[182] [Straßburg] 20./21.XII 1915


Liebste, ich schrieb Dir schon eben eine Karte von hier; ich hab mir als Weihnachtsgeschenk einen Tag Urlaub genommen, um das geliebte Münster wiederzusehen, das mich vor einem Jahr so tief erregte. Der Ausflug ist recht nett gelungen; ich fuhr gestern abend mit einem Wägelchen von Leiningen nach Bensdorf, stieg dort in den Schnellzug und war 840 in Straßburg. Schon die Mondscheinfahrt im Wagen war reizvoll und träumerisch, – erst recht dann der Nachtbummel durch Straßburg. Es ist etwas ganz Besonderes, unter diesen Umständen plötzlich in eine Großstadt versetzt zu werden; (– München wirkt nicht so unmittelbar auf mich, da ich es zu sehr kenne, persönliche Interessen habe, nicht allein bin u.s.w.). Die ganze, im Grunde abscheuliche Seltsamkeit unsrer Zeit spricht aus einer solchen Stadt; die gegenwärtige Kriegssituation wirft auf alles noch ein besonderes Schlaglicht. Ein Kaffeehaus mit seinen Kartenspielern, Geschäftstypen, armen Kellnerinnen wirkt ganz infernoartig; das Straßenleben wirkt auch merkwürdig unterirdisch, unwahrscheinlich, als wäre es längst vergangen, nur mehr im Bilde da. All die sonderbaren Leidenschaften auf den Gesichtern. Ich sah plötzlich ein Vögelchen auf einem Gesims sitzen und hatte das Gefühl, als wäre dies Vögelchen das einzig Lebendige, Unbefangen-Wirkliche in einer toten Stadt, in der nur mehr Leichen gehen. Ich verstehe Kubins Perle so gut! Er hat dies alles glänzend gesehen. Es machte mich gar nicht besonders melancholisch, – die Kunst wird von diesem Tod nicht getroffen. Aber in einer Sache ging es mir sonderbar; mein Nebenzweck war nämlich gewesen, Dir noch ein kleines Weihnachtsgeschenkchen[182] zu besorgen; ich hatte mir nichts vorgenommen und gedacht, ich werde schon was finden; aber was ich sah, war tot. Ich konnte Dir doch nicht das Vögelchen auf dem Gesims fangen und schicken! Ich konnte mich zu nichts, nicht zur kleinsten Kleinigkeit entschließen, – ich konnte Dir doch nichts Totes schicken. So gab ich's auf und schreib Dir nur, daß ich nichts schicken und schenken kann, als meine Liebe, meine lebendige warme Liebe, an die Du glauben sollst und glaubst, das weiß ich. Ja ›bal's zum abschraubn war‹! Trösten wir uns beide! Es wird schon wieder alles gut für uns! Jetzt eß ich noch zu Abend und fahre dann nach Bensdorf zurück, wo mich wieder ein Wägelchen erwartet. In Liebe Dein Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 182-183.
Lizenz:
Kategorien: