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[185] 12.I.16.


Liebste, ich hab jetzt mit großem Genuß Gundolfs Aufsatz gelesen; so wie ich Dich kenne, verstehe ich völlig, daß er Dir einen solchen Eindruck macht; man kann wirklich mit aufrechtem Gewissen jede Zeile unterschreiben; er begegnet meinen eigenen Gedanken sogar so sehr, daß mich in seinen Anschauungen nichts aufregt oder gar zum Widerspruch reizt. Damit sage ich natürlich nicht, daß ich in meinem bisherigen Leben und Streben nie abgeirrt und durch vieles geblendet worden wäre; aber heute ist mir dies alles so klar, – der Krieg hat alles so klar gemacht. (Es ist wirklich traurig, – man muß den Krieg doch immer noch zuweilen loben!!) Sehr schön und entscheidend formuliert er die eine Tatsache: das schöpferische Werk entsteht aus einer erlebten Fülle, nicht aus einem erkannten Mangel (wie z.B. Straußsche Musik und auch Campendonks Arbeiten. Bei Campendonk denk ich auch oft: ja, ganz schön, – wohin gehören wohl die Sachen? Welche Lücken können sie heute ausfüllen? Bei Klee werd ich das nie denken; seine Werke sind ganz seine Kinder, – Lebensausstrahlung.) Über Kandinsky werden wir uns so schnell nicht einigen. Er scheint mir nach wie vor zu den Menschen zu gehören, die aus einer wahren Mitte überraschend weit ausstrahlen, (Eigenart slavischer Genies), ohne darum ein ganz wichtiger, dauernder Schwerpunkt und Gesamtmensch zu sein; – er ist auch kein Klotz wie Cézanne und Rousseau. Aber man darf ja seine Toleranz nicht mißverstehen; – ich habe aus den angestrichenen Stellen den Eindruck, daß Du (auch bezüglich meiner Toleranz und Wichtignahme nicht wesentlicher Erscheinungen) das tust. Es kommt wie immer nicht auf das Wort an, sondern auf den Geist, aus dem heraus etwas geschieht. Ich beachte vieles, (worüber andre schimpfen und zwar von ihrem engeren Standpunkt aus ganz mit Recht), aus innerem Reichtum. Ich lege noch lieber in irgendeine mißglückte Äußerung eines Menschen meinen Reichtum und meine Phantasie und meine Ahnung hinein, als daß ich achtlos daran vorbeigehe und es um seiner Unvollkommenheit willen verleugne. Große fertige Werke der Weltmitte interessieren mich nie speziell (z.B. die Antike oder Michelangelo oder Goethe), aber ein kleines simples Glasbildchen oder ein unbekannter armer Kubist kann mein ganzes Innere in Bewegung[185] bringen, – ich beginne daran zu arbeiten. Das ist meine Toleranz und auch Kandinskys ›Verstehen‹. Die Menschen, die nur am Besten, am ›schlechthin Gültigen‹ sich entzünden können, sind unproduktive, nicht aus der ›eigenen Mitte‹ lebende, sondern nach-lebende Naturen. Gerade das, was Gundolf so fein (Seite 25 Z. 12 und 13) meint: ›Unfähigkeit zur Anverwandlung und Verarbeitung der zudringenden Materie.‹ Am stärksten hat mich Gundolf gegen Schluß seines Arikels interessiert (s. 32 u.f.), wo er über das Volk schreibt. Ich wurde mir ja nie ordentlich klar über diese Frage; er formuliert sie ausgezeichnet; es gibt eben den Begriff Volk in Europa nicht mehr; man muß sich nolens volens damit abfinden. Alle Konsequenzen dieser Tatsache sind damit natürlich noch nicht gezogen und klargestellt; ich möchte gern einmal mit Gundolf und Wolfskehl darüber reden. Für mich war diese Stelle die wichtigste des ganzen Aufsatzes. Alles andere hatte ich spätestens und restlos in dieser Kriegszeit begriffen. Du erwähnst das Kapitel: Walden – es scheint mir höchst gleichgültig. Für diese Skrupel, an denen ich so lange litt, hab ich nicht mehr sehr viel übrig. Solange ich von dort keinen Druck auf meine Produktion spüre, kümmre ich mich nicht darum. Ich bin und bleibe dort einzeln. Als Mitglied und Aussteller der Cassirer-Sezession und dergleichen könnte ich dieses Gefühl sicher nicht haben; schon der Begriff des Vereins macht mir das alles unmöglich. Wunderschön ist das ganze letzte Kapitel VII bei Gundolf. Wenn ich wieder daheim bin, wirst Du in mir sicher keinen Peripheriemenschen treffen, – hab nur keine Angst davor. ... Lies einmal in Hildebrandts Artikel Seite 98 das wundervolle Bild, das Goethe vom Schaffen gebraucht. In diesem Artikel stehen überhaupt anregende Dinge, vor allem über Sokrates und Plato. Vergiß bitte nicht, Wolfskehl einmal nach den Sonetten von Shakespeare zu fragen; ich hab manchmal vergeblich versucht, sie englisch zu lesen, – es ist mir zu schwer. Hat Gundolf sie übersetzt? Oder kann er eine andere Übersetzung empfehlen? Dann lasse ich ihn bitten, sie mir einmal zu leihen, oder wenn sie billig zu haben sind, besorge sie einmal. Ich bin allerdings sehr skeptisch gegen Übersetzungen. Ich kann ja auch Gundolfs Shakespeare nicht lesen. Luther hat für die Bibel und Schlegel für Shakespeare alles vorweggenommen, – meinetwegen eigenmächtig vergewaltigt, – aber wer mit diesen Büchern aufgewachsen, kann später über den Sinn des Originals nicht neu belehrt werden, so daß er dann einen Shakespeare I und einen Shakespeare II besäße! Es ginge wie mit den Ritterbaumgartenbildern [Baumgärtner-Altar, Alte Pinakothek München, d. Hrsg.] von Dürer: die nachdürersche Übermalung war uns Deutschen 1000mal wertvoller in ihrer traditionellen Gestalt als die jetzige Purifizierung. Hervorragend gut ist die Behandlung des Begriffs ›Normal‹ (S. 31). Mich freute auch die Bemerkung (32 oben) über das Pathologische, überhaupt[186] Gundolfs souveräne Haltung gegenüber den Al lerweltsschlagworten Normal und Volk. Über den Kern des Artikels: ›Leib‹ kann ich Dir heute noch nicht schreiben, vor allem über die Stelle S. 12 oben. Nicht, als hätte ich einen glatten Einwand gegen diese Stelle; aber mit Worten ist nicht alles gesagt. Askese als ›Hygiene des übersättigten Leibes, nicht seine Aufhebung‹, – das scheint mir mehr historisch-psychologisch richtig, drückt aber nicht den geistigen Sinn der christlichen Entsagung aus; es liegt sogar ein sehr bedenklicher Opportunismus und Rationalismus in dieser Auffassung. Eine andere Stelle fiel mir auch als Verlegenheits-Phrase auf: S. 33 Mitte: ›Das Schöne ist ein Urphänomen und besteht aus Überfluß‹ – Wenn man über das Schöne nichts zu sagen weiß (und bis dato weiß noch niemand etwas darüber zu sagen), – wozu leere Worte gebrauchen? Nun Schluß. Gestern kam noch Dein trauriggestimmtes Sonntagsbriefchen, – also über das Altern machst Du Dir Gedanken? Ich wahrhaftig nicht. Ich war nie frühreif und bin sicher, mit 40 und 50 Jahren Lebendigeres zu leisten als mit 20 und 30. ... Ich bin sehnsüchtig nach Dir und reite einsam in ganz Lothringen umher, oft viele Stunden. Dein Fz. Kuß!

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 185-187.
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