32.

[194] Jeder Formbildner und Ordner des Lebens sucht das gute Fundament, den Fels, auf dem er bauen kann. Dies Fundament fand er nur äußerst selten in der Tradition; sie hat sich meist als trügerisch und nie als sehr dauerhaft erwiesen. Die großen Gestalter suchen ihre Formen nicht im Nebel der Vergangenheit, sondern loten nach dem wirklichen, tiefsten Schwerpunkt ihrer Zeit. Nur über ihm kann er seine Formen aufrichten.

Das dunkle Wort Wahrheit erweckt in mir immer die physikalische Vorstellung des Schwerpunktes. Die Wahrheit bewegt sich stets, wandelbar wie der Schwerpunkt; sie ist immer irgendwo, nur niemals auf der Oberfläche, niemals im Vordergrund.

Wahrheit ist auch nie Erfüllung, Realität, künstlerische Gestalt, sondern das Primäre, der Gedanke, religionsgeschichtlich ausgedrückt: das ›Wissen um das Heil‹, das stets der Gestalt, d.i. der Kunst und der ›Kultur‹ vorausgeht.

Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 194-195.
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