42.

[197] Aus dem alten Glauben, dem credo quia absurdum, wurde das moderne Wissen. Was wir nicht wissen, das glauben wir auch nicht.

Wir überschätzen nicht die Grenzen unsres heutigen Wissens; aber wir Stellenjenseits der Grenze nicht wie unsre Väter den Glauben, sondern die Hypothese, das Wissen mit Vorbehalt oder wenn es uns besser dient, ein X. Doch würde man den Geist des Europäers gänzlich mißverstehen, wenn man hinter seinem X den alten Glauben vermuten wollte.

Gewiß können wir das Wort auch wenden und sagen, daß unser Wissen unser neuer Glaube ist, das neue Gesicht. Es ist ebenso wahr und zeigt nur die Unvollkommenheit des Worts, das nur ein Ungefähr andeutet und einen immer wandelbaren Sinn hat.

Das Wort an sich ist nicht präziser als die Farbe oder der Klang.

Das Wort Glaube, so gewendet, ist Stufe der Erkenntnis.[197]

Die erste heilige Stufe der europäischen Erkenntnis war der Glaube des Gotikers, der den Himmel sah, den Legendenhimmel der Heiligen und der die Wundenmale seines Heilands an seinem Körper brennen fühlte und die Riesendome nach dem Bilde seiner Himmelsvorstellung baute.

Unser Glaube ist das zweite Gesicht, die zweite Stufe der Erkenntnis, die exakte Wissenschaft.

Jeder Glaube gebirt Form.

Unser Glaube des Wissens wird seine große Form im 20. Jahrhundert haben.

Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 197-198.
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