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[212] Ich hatte dieses Gesicht: Ich ging zwischen den Dingen umher und die ich ansah, die verwandelten sich und zeigten ihre Unseligkeit und flohen aus ihrem unwahren Sein. Ein Baum, den ich ansah, begann qualvoll zu seufzen und brach auseinander; seine grünen Blätter flatterten singend durch den blauen Himmel davon; und wo der Baum gewesen war, stand mit Worten in den Sand geschrieben: Wer mich erlöst hat vom harten Baum-sein, der suche meine Seele nicht im Kern des Apfels, auch nicht im Willen zur Gestalt, sondern allein in der Not des Baum-seins, im Leid und Zwang zur Mißgestalt. Der Künstler soll nicht das Lob unsres häßlichen Seins singen, sondern unsern Dryadenwillen zum Anders-sein. Daß wir Euch Saft und Holz und Form scheinen, ist unser Verhängnis.

Wer uns kennte!

Das ist das Lied vom Leid des Baumes!

Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 212.
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