[15. Deutsche und französische Kunst*]

Wenn ein guter Teil der deutschen Künstler heute die Fahne des Deutschtums und der Heimatkunst aufrollt und bedeutungsvoll vor seinen Thoren schwingt, so beabsichtigt er zweierlei:

Einmal sucht er den Geist des Galliertums, den sich die jüngsten deutschen Künstler zu Gast geladen haben, von dem Besuch in seinem Hause und bei seinen Freunden fernzuhalten. Der fremde Gast ist [ihnen] diesen Künstlern unheimlich. Sie scheuen sich nicht, ihn einen Seelenräuber, Giftmischer und Falschmünzer zu nennen und wollen nicht, daß ihr jüngerer, enthusiastischer Bruder mit diesem Fremden Umgang pflegt.

Der andere von ihnen freimütig bekannte Zweck ist, das seit kurzem vor ihren Bildern etwas kaufscheu gewordene Publikum mit ihrem Gackern wieder herbeizulocken. Auch sie wollen Eier gelegt haben, schöne, große, deutsche Eier, keine Kuckuckseier, wie dieser verdammte Franzose.

Zu einer Antwort aufgerufen, müssen wir erklären, was es für eine Bewandtnis mit unsrer Freundschaft für den französischen Gast hat. Die Kernfrage ist:

Was veranlaßt uns jungen Künstler, heute ausländische Werte in Deutschland einzuführen?

Kann es etwas anderes sein als die Überzeugung, daß es wirkliche Werte sind, und zwar größere Werte als momentan auf rein deutschem Boden zu gewinnen sind?

Es ist unglaublich kurzsichtig, uns vorzuwerfen, wir folgten damit einem unpatriotischen Instinkte, der kindisch nach Ausländischem greift; als ob der Künstler Herr wäre über jenen rätselhaften Trieb, der seinen Ideen die Richtung und seiner Kunst den Stil gibt.

Ein starker Wind weht heute die Keime einer neuen Kunst über ganz Europa und wo gutes, unverbrauchtes Erdreich ist, geht die Saat auf nach natürlichem Gesetz. Der Ärger einiger Künstler der deutschen Scholle, daß gerade Westwind geht, wirkt wirklich komisch. Sie bevorzugen Windesstille. Den Ostwind mögen sie nämlich auch nicht, denn von Rußland her weht es denselben neuen Samen. Was ist da zu machen? Nichts. Der Wind fähret, wohin er will. Der Same stammt aus dem Reichtum der Natur; und selbst wenn Ihr ein paar Pflänzchen mit Füßen tretet oder ausreißt, so macht das der Natur gar nichts aus. Es ist nur etwas unkollegial und verrät auch eine traurige Anschauung über Kunst.[129]

Es gibt nur Einen Weg der Verständigung: den ehrlichen Vergleich. Man denke sich in irgend einer Münchner Ausstellung zwischen die deutschen Bilder entsprechend französische eingeschoben: Cézanne, Renoir, Manet, van Gogh, Gauguin, Signac, Matisse, Picasso, Girieud, Le Fauconnier, Friesz u.a. Die Wirkung wird deprimirend sein. Die Franzosen sind so ungleich künstlerischer und innerlicher, daß die deutschen Bilder sofort leer und von äußerlicher Mache erscheinen. Glaubt man das nicht? Will die »Scholle« oder die »Münchner Sezession« den Versuch wagen? Die vorsichtige Auswahl von französischen Gästen, die heuer Herr Spiro für die Sezession getroffen, wirkt auf Eingeweihte [fast] erheiternd. Sie setzt, wie es scheint, mit Absicht das heutige Niveau der französischen Kunst herab. Die wundervolle Cézanne-Kollektion, die vor einigen Jahren die Herren am Königsplatze beunruhigte, wurde zur besseren Hälfte einfach im Sekretariat (!) aufgehängt; der gnädig gezeigte Rest genügte freilich vollkommen, um die ganzen Malbestrebungen der Sezession ad absurdum zu führen; aber man sah nichts und that, wie wenn nichts geschehen wäre.

Daß es nicht der dekorative Gehalt der französischen Bilder ist, der die deutschen schlägt, sondern lediglich der innerliche, künstlerische, können wir uns Deutsche zu unsrer Beschämung daran demonstriren, daß wir an Stelle der gedachten modernen [Scholle] Deutschen beispielsweise einmal Kobell, Runge, Bürckel, Wagenbauer, Kaspar D. Friedrich, Blechen, Rethel, Joh. Adam Klein [oder gar] und Schwind zwischen [unsre] die Franzosen hängen – unsre Deutschen werden leise altmodisch klingen, aber die Innerlichkeit dieser Meister wird mit erstaunlicher Gewalt neben den modernsten Franzosen bestehen. Echte Kunst bleibt immer gut.

Aber man muß ein Auge dafür haben und eine dem Innerlichen zugewandte Seele, die sich allem Künstlerischen ebenso weit öffnet als sie vor jeder äußerlichen Mache zurückbebt.

Will jemand eine solche auf tiefe Kunst gestimmte Seele auf einem Gang durch unsre deutschen Ausstellungen begleiten? Er wird sie sehen, wie sie schmerzlich suchend von Saal zu Saal irrt und von dannen eilt.

Wie ein Wachsfigurenkabinett durch raffinirt geschickte Mittel ein Leben vorzutäuschen sucht, das es nicht hat, so sucht heute die überwiegende Mehrzahl der deutschen Maler durch die Manier ihres malerischen Vortrags ein künstlerisches Erlebnis vorzutäuschen, das in den Bildern gar nicht steckt. Daß dabei die Meisten sich ehrlich und ahnungslos selbst täuschen und für ein »künstlerisches Erlebnis« ansehen, was lediglich »Manier« ist, steht uns ganz außer Zweifel. Aber gerade hierin Hegt der Jammer dieser Pseudokunst.[130]

Dem von Lehrern übernommenen oder persönlich ersonnenen Rezept des malerischen Vortrags wird heute in Deutschland eine ganz lächerliche Bedeutung beigelegt. Die Ware eines jeden Künstlers wird nicht einzeln auf ihren reinkünstlerischen Wert geprüft, sondern trägt je nach ihrem Aussehen (Technik, Farbenklang, Kompositionsweise) eine Reklamemarke, wie z.B. in der Stoffbranche: Glanzseide, home spun, Taffet, Moiré, nur mit dem Unterschiede, daß die Bezeichnungen der Stoffe zuweilen ihrem wirklichen Werte entsprechen können, in der Malerei jedoch von einem solchen Verhältnis nicht die Rede sein kann.

[Diesem Unfuge] Dieser Tatsache gegenüber bedeutet unsre, mit begreiflichem Unverständnis aufgenommene Bestrebung ein Zurückbesinnen auf den Urgrund künstlerischen Erlebens und Schaffens; wir fühlen uns hierin verwandt mit einigen französischen Kollegen und reichen ihnen lediglich darum unsre Hand. Ebenso ist unsre Liebe zu den Primitiven nicht eine Laune, sondern der tief sehnsüchtige Traum, das längst vergessene einfache Verhältnis vom Menschen zur Kunst wiederherzustellen. Welche schwere Aufgabe wir uns damit stellen, sind wir uns ebensowohl bewußt als der Wahrscheinlichkeit, dabei oft Fehlschritte und Umwege zu gehen wie Leute, die auf einen hohen Berg den ersten Pfad bahnen. Aber wir haben das große Ziel erkannt und wir oder unsre Nachkommen werden es einmal erreichen. Alles Üb rige ist gleichgültig. Die liebe Kollegenschaft, die uns auf unserm dornenvollen [Wege] Pfade noch beschimpft und verhöhnt, könnte sich bei der heiligen Versicherung beruhigen, daß sie uns in materieller Beziehung, für die sie so heißes Interesse zeigt, nicht zu beneiden [haben] hat.[131]


* ›Deutsche und französische Kunst(Mitte 1911)

Sieben Blatt in Folio, eigenhändig. Gekürzt abgedruckt in: Im Kampf um die Kunst / Die Antwort auf den Protest Deutscher Künstler. Mit Beiträgen deutscher Künstler, Galerieleiter, Sammler und Schriftsteller. München 1911, S. 75–78; dort unterzeichnet: »Sindelsdorf b. München. / Franz Marc.«

München, Archiv Reinhard Piper


Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978.
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