〈29. Vorwort zur zweiten Auflage*

»Alles was wird, kann auf Erden nur angefangen werden.«

Dieser Satz Däublers kann über unserem ganzen Schaffen und Wollen stehen. Eine Erfüllung wird sein, irgendwann, in einer neuen Welt, in einem anderen Dasein. Wir können auf Erden nur das Thema geben. Dies erste Buch ist der Auftakt zu einem neuen Thema. Seine sprunghafte, unruhig bewegte Art hat dem aufmerksam Lauschenden den Sinn, in dem es erdacht wurde, wohl verraten. Er fand sich in einem Quellgebiete, in dem es gleichzeitig an hundert Plätzen geheimnisvoll pocht, bald verdeckt, bald offen singt und murmelt. Wir gingen mit der Wünschelrute durch die Kunst der Zeiten und der Gegenwart. Wir zeigten nur das Lebendige, das vom Zwang der Konvention Unberührte. Allem, was in der Kunst aus sich selbst geboren wird, aus sich lebt und nicht auf Krücken der Gewohnheit geht, dem galt unsere hingebungsvolle Liebe. Wo wir einen Riß in der Kruste der Konvention sahen, da deuteten wir hin; nur dahin, da wir darunter eine Kraft erhofften, die eines Tages ans Licht kommen würde. Manche dieser Sprünge haben sich seitdem wieder geschlossen, unsere Hoffnung war umsonst; aus anderen wieder spru delt heute schon eine lebendige Quelle hervor. Aber dies ist nicht der einzige Sinn des Buches. Der große Trost der Geschichte war von jeher, daß die Natur durch allen verlebten Schutt hindurch immer neue Kräfte emporschiebt; wenn wir unsere Aufgabe nur darin sähen, auf den natürlichen Frühling einer neuen Generation zu weisen, könnten wir dies ruhig dem sicheren Gang der Zeit überlassen; es läge kein Anlaß vor, den Geist einer großen Zeitenwende mit unserem Rufen heraufzubeschwören.

Wir setzen großen Jahrhunderten ein Nein entgegen. Wir wissen wohl, daß wir mit diesem einfachen Nein den ernsten und methodischen Gang der Wissenschaften und des triumphierenden ›Fortschrittes‹ nicht unterbrechen werden. Wir denken auch nicht daran, dieser Entwicklung vorauszueilen, sondern gehen, zur spöttischen Verwunderung unserer Mitwelt, einen Seitenweg, der kaum ein Weg zu sein scheint, und sagen: Dies ist die Hauptstraße der Menschheitsentwicklung. Daß uns heute die große Menge nicht folgen kann, wissen wir; ihr ist der Weg zu steil und unbegangen. Aber daß schon heute manche mit uns gehen wollen, das hat das Schicksal dieses ersten Buches uns gelehrt, das wir nun in gleicher Gestalt noch einmal hinausgehen lassen, während wir selbst schon losgelöst von ihm in neuer Arbeit stehen. Wann wir uns zum zweiten[153] Buche sammeln wer den, wissen wir nicht. Vielleicht erst, wenn wir uns wieder ganz allein befinden werden; wenn die Modernität aufgehört haben wird, den Urwald der neuen Ideen industrialisieren zu wollen. Ehe das zweite Buch erfüllt wird, muß vieles abgestreift und vielleicht mit Gewalt abgerissen werden, was sich in diesen Jahren an die Bewegung angeklammert hat. Wir wissen, daß alles zerstört werden kann, wenn die Anfange einer geistigen Zucht von der Gier und Unreinheit der Menge nicht bewahrt bleiben. Wir ringen nach reinen Gedanken, nach einer Welt, in der reine Gedanken gedacht und gesagt werden können, ohne unrein zu werden. Dann nur werden wir oder Berufenere als wir das andere Antlitz des Januskopfes zeigen können, das heute noch verborgen und zeitabgewandt blickt.

Wie bewundern wir die Jünger des ersten Christentums, daß sie die Kraft zur inneren Stille fanden im tosenden Lärm jener Zeit. Um diese Stille flehen wir stündlich und streben nach ihr.[154]


29 Vorwort zur 2. Auflage (März 1914)

Aus: Der Blaue Reiter. 2. Auflage. München 1914

Unterzeichnet: »F M / März 1914.«

Manuskript verschollen


Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978.
Lizenz:
Kategorien: