1.

[287] Wenn Verliebte zu ermorden

Dir dein Glaube nicht verwehrt,

Will ich stets für Recht erklären

Was du selbst für Recht erklärt.

Deiner Locken Schwärze kündet

Den Erschaffer finst'rer Nacht,

Und den Schöpfer lichter Tage

Deiner Wangen weisse Pracht.

Jener Quell, der aus dem Auge

In den Schooss hinab mir fliesst,

Ist so mächtig gross, dass schwimmend

Ihn kein Schiffer je durchmisst.

Deiner Lippe Lebenswasser

Bietet Nahrung für den Geist,

Sie, die für den Erdenkörper

Sich als Kraft des Wein's erweist.

Deiner Locke Hand entwischte

Niemand unversehrt und heil!

Alle traf dein Brauenbogen

Oder deines Auges Pfeil.

Andacht, Gottesfurcht und Reue

Ford're nicht von mir als Pflicht;

Beim verliebten, tollen Zecher

Sucht man ja die Tugend nicht.

Dein Rubinenmund verwehrte

Hundert Listen Einen Kuss,

Und durch hunderttausend Bitten

Kam mein Herz nicht zum Genuss.[287]

Doch was soll das Glas, das immer

Wir zum Wohle leeren dir?

Nicht allein den Wein im Becher,

Auch die Becher trinken wir.

Das Gebet für deine Seele

Sei so lang' Hafisens Fleh'n.

Als der Abend und der Morgen

Innig in Verbindung steh'n.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 287-289.
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