[Des Monden halb-erstorbnes Licht]

[109] Des Monden halb-erstorbnes Licht

Weist sein erblaßtes Angesicht/

Durch trüber Wolcken finstre Decken.

Der Schatten tunckel brauner Nacht/

Der Aug und Ohren irrend macht/

Umgiebt den Erdenkreiß mit Schrecken.


Du liegst/ mein Freund/ in sanffter Ruh/

Schleust die verliebten Augen zu/

Kanst/ was du wilt/ im Traum umfassen.

Ich muß zu ungewohnter Zeit/

An Leib und Geist voll Müdigkeit/

Das kaum erwarmte Lager lassen.


Ich muß durch alles Ungemach/

Das Wind und Winter ziehen nach/

In unbekandter Gegend reisen/[109]

Wohin mich durch ein schlimmes Land

Des Welt-Beschreibers kühne Hand

Und theur-gekauffte Führer weisen.


Ich ändre täglich Kost und Heerd/

Vertausche Wohnung/ Bett und Pferd/

Nichts/ und doch alles ist mein eigen/

Nichts ruhet an mir/ als der Mund/

Dem offt den gantzen Tag vergunt

In stiller Einsamkeit zu schweigen.


Wo gehn wir izt mit gleichem Sinn

In zwey ungleiche Strassen hin/

Die ich und du so offt gemessen?

Wo können wir izt unsrer Pein

Und Lust geheime Zeugen seyn/

Zusammen schlaffen/ trincken/ essen?


Wer sieht uns/ wenn der Tag entsteht/

Und Phöbus gegen Westen geht

Um Leydens schöne Stadt spatzieren?

Wer sieht uns in Vertrauligkeit/

Auff nahen Gräntzen steten Streit

Und süssen Krieg zusammen führen?


Ach/ Hertze/ könnt ich bey dir seyn!

Doch weil der Himmel nicht stimmt ein

Mit meinem Wünschen und Verlangen/

So lebe wohl-beglückt/ mein Kind/

Biß mir die Vater-Erde günnt/

Dich mit Vergnügen zu umfangen.


Indessen soll die Ewigkeit

In das Register grauer Zeit

Und an des Himmels Wände schreiben/

Daß dir und deiner Brüderschafft

Biß ihn der blasse Tod wegrafft/

Dein Damon treu und hold wird bleiben.

Quelle:
Hans Aßmann von Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte. Bern 1970, 4, S. 109-110.
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