Neunundsiebenzigstes Kapitel.

Wir werden Alle Blut sehen müssen.

[697] Die blaugraue Dämmerung eines Nebelmorgens drang noch kaum durch die von der innern Wärme angeschlagenen Scheiben in das Zimmer der Fürstin, als diese im Negligé aus ihrem Kabinet trat. Wandel, der hinter ihr die Thür schloß, war schon fertig angezogen. Er sah blasser als gewöhnlich aus und schlang ein wollenes Tuch gegen die Morgenkälte um den Hals, ehe er sich anschickte, den Mantel umzuwerfen. Die Fürstin wies auf die Thür zur Hintertreppe: »Sie können durch den Gartensalon. Adelheid schläft schon seit gestern nicht mehr hier.« – »Der Abschied von der Tugendprinzessin war wohl sehr rührend?« Die Gargazin sagte nach einigem Besinnen: »Ja – ich habe geweint.« Was sie noch sagen wollte, verschluckte sie.

»Tant mieux, Madame, sie kann uns nun protegiren. Le temps se change, mais pas les hommes.« – »Ich wünschte, Sie changirten,« sagte die Fürstin ernst. »Hat Sie der Anblick des jungen Mädchens nie gerührt? Zuweilen – wenn ich sah, wie alle Verlockungen und Verführungskünste von ihr abglitten – ja, zuweilen überkam[697] es mich, ob sie nicht in einem unmittelbaren Schutze stehe.« – »Die Hand des Schutzengels, den der Himmel ihr gesandt, drück' ich jetzt an meine Lippen. Au revoir! Uebrigens habe ich ja auch ein wenig den Engel agirt.« Die Gargazin riß die Hand zurück und ihr strafender Blick hätte ihn zum Schweigen auffordern sollen, aber er schwieg nicht: »So war uns die Rolle des Verführers zugewiesen. Jede Rolle ist gut, wenn man sie nur gut spielt. – Sie schaudern, es ist ein frostiger Oktobermorgen. Sie werden sich erkälten, Sie sollten sich wieder zur Ruhe legen.« – »Ich schaudre, doch ich friere nicht.« Er sah verwundert, als sie nach der Klingelschnur griff. »Ich will nach der Hedwigskirche. – Wenn Sie gesündigt, fühlen Sie dann nie das Bedürfniß, Ihr Herz auszuschütten? Haben Sie gar keine Empfindung, keine Ahnung davon, welche Erleichterung, Wohlthat es ist, so belastet und gedrückt sich in den Staub zu werfen, und im Bekenntniß, in der Beichte zu den Füßen eines plénipotentiaire der Allmacht alles das niederzulegen, und jeden Winkel in uns auszukehren?«

»Ich begreife es – ich begreife es vollkommen!« – »Und Sie verschmähen die Wohlthat.« – »Was dem Armen ein Schatz ist, wirft der Reiche oft aus dem Fenster.« – »O Sie reicher Mann!« Es war ein böser, aber scheuer Blick. »Weil sie so gewaltig stark sind. Weil Sie die Schwäche nicht kennen! – Ich hätte Sie von Anfang an hassen müssen –« »Aber Sie wollten mich bekehren, darum erbarmten Sie sich meiner und liebten mich.« – »Nein! – Eigentlich bewundere ich in Ihnen die Allmacht der Natur. Wie es möglich war, ein Geschöpf in Menschengestalt ohne Blut und Herz zu bilden! Sie waren mir neu, interessant, ich wollte Sie studiren. Ich klopfte an, ob nicht irgendwo eine schwache Seite herausklinge – aber kalter Marmor von außen und noch kälter von innen. Ich fragte mich, was bewegt denn diesen Block, den irgend ein Dämon aus dem kalten Gestein loshieb und gemeißelt ins Leben setzte, mit täuschender Menschenähnlichkeit, aber er ward kein Mensch.« – »Einige wollten behaupten, der Egoismus sei es allein, der diesen – Marmorblock in Thätigkeit bringt.« – »Aber die Lichter des Himmels blitzen Sie doch an, die Töne der Natur finden in Ihnen einen Widerhall. Es rauscht und strahlt zuweilen so harmonisch heraus, daß Sie blenden, berauschen, verführen. Sagen Sie, ist das Alles nur der Reflex eines Spiegels, den selbst nichts rührt? Haben Sie keine Seele, oder ist sie wie das Meer am Eispol, eingefroren seit ihrer Schöpfung?«

»Viel näher, theuerste Freundin, läge doch der Vergleich mit dem Dämon, den der große Dichter ins Leben rief. Warum so ungeheuer weit suchen im Chaos des Möglichen und Unmöglichen, statt Goethe's Mephistopheles zu citiren? Die Ehre erzeigten mir[698] Andere, sie nannten mich den Geist, der immer verneint. Höflichere hatten sogar die Freundlichkeit, den Schalk in mir zu wittern, von dem es dort heißt, daß unter allen Geistern, die verneinen, er dem Herrn der Schöpfung am wenigsten verhasst sei. Doch das lass' ich auf sich beruhen, es ist Geschmackssache, wie Alles in der Welt, Antipathieen und Sympathieen. Was sich anzieht, was sich abstößt, es ist Alles ein Spiel der Laune, die wir nicht ergründen, der Kern des Kernes, die Ursach der Ursach, nach der die schöne Königin Charlotte selbst einen Leibnitz umsonst fragte und quälte. Nein, danach müssen wir nicht grübeln, um Gottes willen; wir Alle sind ja nach Ihrem Glauben – Erwählte oder Verstoßene, denen die Gnade leuchtet, oder es blieb in ihnen finster. Haben Sie doch Erbarmen mit solchem Finstergebliebenen, er kann ja nicht für seine Maulwurfsaugen, noch daß sein Blut so kalt blieb als das arktische Meer. Wenn Sie da weiter fragen wollten, hohe Frau, auf welche Fragen stießen Sie, Räthsel, die selbst Ihr Glaube, der Berge versetzt, nicht löst. Zum Exempel, warum gab der Panurg sich die Mühe, Meer da oben am Nordpol zu schaffen, wenn es sofort zu Eis erstarrte? Wir Skeptiker würden fragen, warum schuf er nicht sogleich Eis? es wäre doch einfacher, bequemer, consequenter gewesen, Was hat dies arme Salzwasser verschuldet, daß es die schmerzliche Metamorphose erduldete? Muß es wie ein neugeboren Kind, die Sünden seiner Erzeuger büßen? und warum büßen in alle Ewigkeit, denn bis nicht ein Komet an diese alte Erde stößt, der Weltenbrand alles verzehrt, wird dies unglückliche, verzauberte Wasser doch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erlöst.«

»Der Weltenbrand!« rief plötzlich die Fürstin auf, und ihr Gesicht glühte. Nicht die Wärme von innen, es war eine Purpurgluth, die von Außen daran schlug. Die Sonne war aufgegangen, die Wolken zerrissen, eine unförmlich große Feuerkugel tanzte im Dunstlicht. Aber bald sah man sie nicht mehr vor der Färbung, die sie dem ganzen Dunstmeer mittheilte. Das Firmament schien Feuer. Das Zimmer, eben noch im unheimlichen Grau, war von rothem Gefunkel übersprenkelt. Rasch hatte die Wirthin das Fenster aufgerissen, und die Dächer der Häuser, die weite Stadt, so weit man sie übersah, schwammen in einem Blutroth. Wenn sie überrascht war, schien es nicht die Ueberraschung des Schrecks, sondern einer dämonischen Freude. Sie streckte ihren entblößten Arm hinaus in die kalte Luft, während diese Kälte sie doch nöthigte, die Enveloppe mit der andern Hand fester um Brust und Hals zu drücken. »Sehen Sie!« – »Die Nebel zertheilen sich. Es wird ein schöner Herbsttag werden.« – »Der Tag der Vergeltung! Er bricht an. Feuer und Blut gemischt. O ich könnte mich freuen, ein entzückendes Schauspiel, wenn die wogenden Flammen über die Dächer sausten, das[699] Lied der Vergeltung heulend. Des neuen Attila Mission ist groß, und ich sehe, sie ist noch nicht zu Ende. Die Leichen sollen sich noch zu Bergen thürmen und das Blut in Strömen fließen, wo wir noch kein Bett dafür sehen. – Ei, Sie schaudern, das freut mich. So blutig roth, wie dieser Morgen –«

Wandel schauerte wirklich, er zog den Mantel um die Brust: »Sie wissen, ich kann kein Blut sehen, Alles – Andre – nur kein Blut –« Die Gargazin schien sich an seiner Angst oder an seinem Schreck zu weiden: »Steigt Ihnen es auch zu Wangen! – Wir werden Alle Blut sehen müssen, mein Herr von Wandel. Ohne das keine Erlösung aus diesem Dasein. Entweder stockt es, und wir gehen in Konvulsionen unter, oder es strömt in hellen Purpurquellen aus und das ist die leichtere. – Hören Sie die Trommeln wirbeln? Wie muthig und froh gehen die Tausende dahin, wo die eisernen Würfel fallen. – Ja, das Spiel ist aus, der Ernst beginnt, mein Herr. Verspüren Sie keine Lust? Hörten Sie's nicht singen: ›Im Felde, da ist der Mann noch was werth!‹ Regte es sich da nicht in Ihnen? Hier ist er gar nichts mehr werth.«

Welcher Dämon war in die Frau gefahren? dachte der Legationsrath. »Um ins Feld zu ziehn, muß man –« »Muth haben,« unterbrach sie ihn. »Bewahre Ihr Genius oder Ihre Heiligen die Liebenswürdigste Ihres Geschlechts davor, eine Amazone zu werden!« Sie schien ihn nicht zu hören. »So rottenweis sie fallen, Reihe um Reihe unter dem Kartätschenhagel stürzen, das Feld sich lichten zu sehen, für einen Feldherrn soll es ein Götterschauspiel bieten. Da, wenn er auf der Höhe hält, den Tubus in der Hand, sein Schlachtroß unbeweglich unter seinen Lenden, da soll Napoleon ein Gott sein. Ein Bewegen mit dem kleinen Finger, ein Seitenblick, ein Zucken mit der Lippe, die Adjutanten verstehen es, neue Bataillone wälzen heran, sie füllen die Lücken, um wieder – Lücken zu werden. – Ich kann die Frau da begreifen, wenn es wahr ist, was sie von ihr erzählen. Mit Menschenleben spielen wie mit Schachpuppen, warum soll es nicht zum Kitzel werden, dem man nicht widersteht.«

»Die Unglückliche! Sie wollte gewiß keine Verbrecherin werden.« – »Wer will das! Sie wollte nur Glück um sich verbreiten, aber weil die Menschen eigensinnig sich ihres auf eigne Weise suchen, ward sie erbittert, bis – bis – Ja – weil sie nicht Muth hatte zu sündigen, darum ward sie Verbrecherin. Eine Philosophin – sie hat ihre Götter sich selbst geknetet, – weiß ich, aus welchem Koth! – Wer den Gott des Lebens nicht kennt, seine Beseligung, dürstet doch nach einer anderen. Der Gott des Todes gewährt sie auch, und wem die großen Würgeengel nicht zu Kommando stehen, wie Bonaparte, lässt sich mit den kleinen[700] genügen. Die Gemeinheit sagt, sie hätte es aus Rache gethan. Nein, ich vertheidige die Frau. Auch sie nur ein Werkzeug in seiner Hand.« – »Sie würde mit ihrer erlauchten Vertheidigerin schwerlich zufrieden sein.« – »Herr von Wandel wird sie allerdings besser vertheidigen, weil er sie besser kennt.« War das ein Basiliskenblick? – Er wollte sprechen – aber er stotterte nur von Gott und reinem Bewusstsein. Wenn sie unschuldig, werde jener sie schützen, dieses sie trösten.

»Reden Sie doch nur in Sprachen, die Sie verstehen.« herrschte die Fürstin ihn an. »Wenn Gott seine Zuchtruthe am Himmel aushängt für die Völker, straft er auch die Einzelnen. Merken Sie sich das, Herr von Wandel. Wenn Pestilenz, Krieg, Verderben in einem Lande ausbricht, kommt es nicht angeweht vom Winde, es bricht von Innen heraus, wie ein Geschwür von den faulen Säften. Merken Sie das. – Werden Sie noch hier bleiben? Mich dünkt, hier ist nicht Ihres Weilens. Mich dünkt, Ihnen könnte Gefahr drohen. – Mich dünkt, man glaubt Sie zu kennen –« »Wer?« – »Ich nicht,« rief mit Nachdruck die Gargazin. »Ich will nicht, mir graut, Sie kennen zu lernen. Die Akademie will Sie nicht, aber für Gelegenheit nach Rußland lassen Sie mich sorgen – ich könnte Ihnen eine Professur in Kasan verschaffen.«

Der Legationsrath verneigte sich zum Abschied: »Die Luft dort ist mir zu streng.« – »Was fesselt Sie hier?« – »Erlaucht wissen –« »Unmöglich – nein – abscheulich – das traue ich Ihnen doch nicht im Ernst zu.« – »Eine mariage de raison, weiter nichts. Wenn wir mit den Leidenschaften und Phantasien zu Rande sind, behält die Vernunft das letzte Recht.« – »Mir aus den Augen!« – »Was that Madame Braunbiegler, Euer Erlaucht Zorn zu erregen?« – »O mehr als abscheulich – widerwärtig – eine Versündigung gegen Geschmack, Gefühl, Aesthetik! An einen trunkenen Silen konnte die Nymphe sich hängen, da war im Epheu holder Wahnsinn – aber das Thier, das im Schlamme der Gemeinheit sich wälzt, das wagten die Griechen selbst nicht – Und mit Bewusstsein, klar sehend – Mir aus den Augen – da ist die Treppe – wenden Sie sich nicht um – Ich will Ihnen nicht wieder ins Gesicht sehen – nie, nimmermehr!«

Wandel hatte sich noch tiefer verneigt und – er stand schon auf der Treppe. Da aber wandte er sich doch um. Es musste ein eigner Blick sein. Sie ward roth und blaß: »Erinnern Sie sich,« rief sie ihm nach, »daß Sie keine Zeile Schriftliches von mir in Händen haben. – Ich kenne Sie nicht. – Fort – hinunter – Scheusal – schneller!«

Er war symbolisch die Treppe hinuntergeworfen. Er machte[701] sich keine Illusionen darüber. Aber warum? – Weil er das ästhetische Gefühl der Fürstin verletzt? Weil grade diese Rivalität ihren Schönheitssinn empörte? – Ein höhnisches Lächeln schwebte auf seinen Lippen. Er litt zum ersten Male ungerecht. Er hatte nie im Ernst an die Heirath gedacht. War es nur eine Weiberlaune, welche plötzlich in ihr aufgestiegen, und hatte die Aufwallung einer Phantasie so lange, künstliche, wenn auch nie ganz feste Bande gesprengt? Oder lag etwas Bestimmtes zu Grunde?

Mit jedem Schritte gewann die letzte Vorstellung an Gewicht. Eine fürchterliche Ueberzeugung, aus Kettengliedern zu einer Kette geworden. Er war nicht mehr, oder vielmehr, er galt nicht mehr, was er gegolten. Wer giebt einem fadenscheinigen Rock seine Wolle wieder! Sein Kopf senkte sich, seine Füße wurden schwerer. Der frühe Morgen war ein Glück für ihn; er begegnete keinen Bekannten. Der große Menschenkünstler hätte seine Aufregung nicht verbergen können. Dort stand er an der Ecke, zaudernd, drei Wege vor ihm, der eine führte zur Post. Seine rechte Hand griff unter den Rock, an die Stelle wo das Herz sitzt. Ob er dessen Pochen hörte, es unterdrücken wollte? Ueber dem Herzen war aber auch die Brusttasche des Rockes, in dieser sein Taschenbuch, und in demselben steckte ein von allen Gesandschaften visirter Paß ins Ausland. Es waren auch vielleicht mehrere Pässe auf mehrere Namen. – Sein Sinnen in dem Augenblicke war, ob er nach der Post eilen, Extrapost nehmen, und die Stadt und das Land auf immer verlassen solle? Vielleicht ließ er damit mehr hier zurück, als den Staub seiner Füße – seinen Namen. An einem andern Orte tauchte er unter einem andern neugeboren auf; die Welt ist groß.

Aber vor seinen Augen musste sie nicht so groß erscheinen, als er, mit den Zähnen die Unterlippe kneifend, vor sich hinstarrte. Auf der Landkarte, die sein Auge in der Luft vor sich zeichnete, sah er vielleicht Städte und Länder, die ihm schon verschlossen waren. Indem schallte Reitermusik die Straße herauf. Berittene Rekruten sangen das jetzt so beliebte:


Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!

Ins Feld, in die Freiheit gezogen!


Sie schaukelten sich dabei, noch ungeschult, in toller Lustigkeit in den Sätteln. »Was ist diesen Bauernlümmeln Freiheit – was Vaterland!« rief es in ihm. »Der Stock ihr Meister, und doch gehn sie muthig dem entgegen, dem sie nicht ausweichen können; sie müssten denn desertiren. Und das Desertiren hat in diesem Lande mehr Gefahr, als – dem Feinde stehen. Ich will auch nicht desertiren.«[702]

Er ging weiter; nicht nach der Post, aber doch schien er noch unschlüssig, wohin. War es Zufall, daß seine Schritte sich nach dem Hotel des französischen Gesandten lenkten? Alles war hier in Thätigkeit, Packwagen standen unter dem offenen Thorweg; aber auch eine Kutsche angespannt auf der Straße. Laforest wollte Abschiedsbesuche machen. Wenn Wandel hier angeklopft, würde er bereitwillig aufgenommen sein; er ging unschlüssig bis an die Stufen, aber – er musste Gründe haben, weshalb er nicht anklopfte. Er ging rasch vorüber, und athmete auf. »Er ist doch nur ein Meteor!« sprach er für sich. »Wenn er untersinkt, wo bleibt Napoleons Schweif!« Wir glauben, daß Wandel sich hierin selbst belog. Er hatte andere Gründe, weshalb er Frankreich nicht mehr betrat.

Er war auf eine Bank unter den Linden hingesunken. Zwei Morgenspaziergänger, die einen Brunnen tranken, setzten sich ebenfalls. Nachdem sie über die Wirkungen des Wassers sich des Längeren unterhalten, sprachen sie auch von der Lupinus und ihrer Verhaftung. Die Geschichte erhielt neue Wendungen. Sie war nach des Einen Konjektur eine geborne Giftmischerin aus Instinkt. Er wollte gehört haben, sie hätte schon in der Schule angegiftet, dann als fünfzehnjähriges Mädchen zuerst ihren Vater und darauf ihre Mutter komplet vergiftet. Die Zahl ihrer übrigen Opfer lasse sich gar nicht berechnen, und sie thue es ohne allen Zweck und Vortheil, nur weil es in ihrem Blut liege. Sie könne es nicht lassen. Der Andere wollte entgegengesetzte Nachrichten haben: sie sei eine wohlerzogene und treffliche Frau gewesen, aber die Neigung zu einem fremden Herrn habe sie aus Rand und Band gebracht. Sie hätte sich zuerst selbst vergiften wollen, weil er ihre Leidenschaft nicht erwidert, ihre Blicke nicht verstanden. Dann aber hätten sie sich verständigt, und der fremde Herr merken lassen, daß, wenn sie frei wäre, und nicht Manches sonst im Wege stände, er sie gern heirathen würde. Darauf hätte sie eine Pflegetochter und die Kinder ihres Schwagers vergeben. Bei der ersten sei es noch zur rechten Zeit gemerkt worden und man hätte sie aus dem Hause geschafft; die Kinder wären daraufgegangen. Der fremde Herr hätte darauf gesagt: so sei es gar nicht gemeint gewesen, und er habe auf immer von ihr Abschied genommen. Da aber hätte sie grade schon auch ihren Mann vergeben gehabt, und wäre von der Alteration außer sich gerathen. Alles wäre ja umsonst gethan. »Ich weiß nicht, Herr Geheimsekretär,« sagte der andere Geheimsekretär, »ich weiß nicht, ob ich nicht den andern vornehmen Herrn auch bei den Ohren fasste.« – »Wird auch geschehen,« rief der Angeredete dem klugen Manne ins Ohr. »Gestern im Kasino hörte ich so etwas, unter uns gesagt, daß der Herr Regierungsrath[703] von Fuchsius auf ihn vigilire. Es ist da was, – man weiß nur nicht, was – indeß man wird ja davon hören.« –

Bald darauf klingelte es heftig in der Wohnung des Rath Fuchsius, auch noch in früher Morgenstunde, denn der Rath saß im Schlafrock und Pantoffeln beim Kaffee und Pfeife. Ein fremder Herr wünschte in einer dringenden Angelegenheit ihn zu sprechen, und ehe noch der Bescheid hinausging, war der Legationsrath eingetreten.

Zwei fein gebildete Männer sind um den Anfang eines Gesprächs nicht verlegen, ohne das Wetter zu Hülfe zu rufen. Aber Wandel unterbrach den schönsten Fluß der Introduktion, bei der Fuchsius ihn nicht einmal gefragt, was ihm die Ehre des Besuches verschafft, indem er den Hut auf die Erde fallen ließ und, mit beiden Ellenbogen auf den Tisch sich stützend, die Hände gegen die Stirn drückte: »Mein Gott wozu das Alles! – Sie wissen, warum ich hier bin. – Die Arme, Unglückselige! – Sie sehen mich in unaussprechlicher Angst und Verwirrung – ich kann kaum meine Worte fassen – Verzeihen Sie, wenn ich Ungehöriges rede – Sie wissen aus eigner Anschauung, in wie naher Verbindung ich mit ihr stand –« »Um so schmerzlicher, kann ich mir denken,« entgegnete Fuchsius, »muß die Beschuldigung, welche die Dame trifft, einen edelgesinnten Freund berühren.« – »Ich danke Ihnen für diese schonende Sprache. Eine Bitte voraus – wenn sie schuldig ist, ich meine nach Ihrer Ansicht, gleichviel, ob es nur Ihre moralische Ueberzeugung ist, oder eine die sich auf Beweise gründet, erlauben Sie mir wenigstens, ihrem ältesten Freunde, sie in unserm Gespräch als eine arme, unglückselige Dulderin zu bezeichnen.«

»Da der Jurist die Regel gelten lässt: Quilibet bonus praesumitur, donec contrarium probetur, versteht sich dieses Recht für einen so intimen Freund von selbst.«

»Und nun,« sagte Wandel mit fester Stimme, – »ohne Umschweife, wie es sich unter Männern ziemt: was haben Sie über mich disponirt?« – »Sie vergessen, daß ich mit der Diplomatie nichts mehr zu thun habe.« – »Mein Gott, wozu die Komödie! bin ich ein fugae suspectus? Haben Sie mich nicht in Ihrem Hause? Mit einem Worte: werden Sie mich verhaften lassen?« – »Ich – Sie? – Das ist eine sonderbare Frage. Sind Sie denn angeklagt?« – »Qui s'accuse, wollen Sie damit sagen. Wohlan, ich betrachte mich als ein Angeklagter, und frage Sie offen heraus: habe ich mich als ein Surveillirter zu betrachten, oder habe ich die Captur zu gewärtigen? Um Anordnungen wegen meiner Güter zu erlassen, liegt mir viel daran, es zu wissen, und ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir gradeaus Ihre Absicht mittheilten.«

»Die Criminaljustiz schreitet bei uns nur im Fall dringender Verdachtsgründe zur Captur.«[704]

»Nun, sind das für Ihre Justiz nicht dringende Gründe, daß eines intimen Umganges mit der Geheimräthin das Gerücht mich bezüchtigt, und ich räume ein, es war mehr als Gerücht. Ich war fast täglich in ihrem Hause, ich führte ihre Geldgeschäfte, ich wusste um Dinge, die Niemand sonst weiß. Sie war eine nervös-hysterische Kranke, eines jener zartgestimmten Instrumente, die eine ganz besondere Behandlung erfordern, um nicht immer Disharmonien zu hören und von sich zu geben. Sie hatte einen Widerwillen gegen die Aerzte, welche sie nicht so zu behandeln verstanden, oder es nicht wollten. Ich musste ihr kleine sympathetische Mittel verschreiben; es war oft Betrug dabei, das gestehe ich ganz offen, denn solche Kranke, die sich stets selbst täuschen, verlangen, auch von ihren Aerzten getäuscht zu werden. Im Verlauf der Zeit war sie auch damit nicht zufrieden, sie wollte selbst operiren. Wie ich auch dagegen mich sträubte, sie bestellte sich bei Herrn Flittner eine kleine Hausapotheke, und ich musste den Vermittler spielen. Herr Regierungsrath, alles das sind schon Verdachtsgründe, auf die ein gewöhnlicher Richter mit beiden Fäusten zugreifen würde. Aber – ich empfand eine Achtung für die seltene Frau, die mit jedem Tage wuchs, die, weil ich sie erwidert glaubte, zu einer Seelenharmonie ward. Ich hatte daran gedacht, wenn sie frei ward, um ihre Hand zu bitten, mein Interesse war daher des Geheimraths früher Tod; er ist früher gestorben, als man erwartet, es heißt, nicht auf natürlichem Wege, ich war bis dahin, wenn nicht täglich, doch sehr oft, in ihrem Hause, im nächsten Verkehr mit der, welche man der Giftmischerei bezüchtigt, sie empfing Spezereien, wobei mein Name genannt ward – ich will mich auch gar nicht darauf berufen, daß ich grad in letzter Zeit seltener ansprach – ich hielt darauf wirklich um ihre Hand an, wollte also meinen Vortheil geltend machen. Nun, mein Herr, entscheiden Sie, ob das in Ihrem Lande dringende Verdachtsgründe sind.«

Fuchsius hatte ihn fest angesehen: »Ich kehre die Frage um; was würden Sie in meiner Lage thun? Sie haben die Rechte studirt.« – »In Amerika ließe ich den Mann auf der Stelle verhaften. Ich erinnere mich eines ähnlichen Falles, wo ich als Friedensrichter so handelte. Es ergab sich nachher, er war unschuldig. Aber Sie müssen den amerikanischen Charakter, die besonderen Verhältnisse beachten. Standesrücksichten giebt es nicht; die feineren Bezüge der Seelenkunde gehören dort nicht vor Gericht, nichts als die matter of fact. Ich weiß, ich stoße so oft an, indem ich mich in die europäischen Verhältnisse noch nicht wieder zurechtfinde.« – »Ich höre zum ersten Mal, daß Sie in Amerika waren, Herr Legationsrath.« – »Eine Vorahnung, was die Revolution uns bringen würde, trieb mich schon bei ihrem Ausbruch dahin,« sagte[705] Wandel mit einem Seufzer. »Wäre ich doch nie zurückgekehrt! Man muß gestehen, die Revolution hat mehr und Tieferes zerstört, als Königreiche und Fürstenthümer.« – »Vielleicht auch dem nur den letzten Stoß gegeben, was längst in sich zerstört war,« sagte der Rath. – »Sehr wahr! Eine tiefe Wahrheit, Herr Regierungsrath. Wenn ich der schlichten Sitten, der Natureinfalt gedenke in unserm Dorfe, nicht bei den Landbewohnern allein, auch in unserer Familie, wie sie traulich Abends unter den Lindenbäumen vor der Thür des reinlichen holländischen Hauses saßen und ihren Thee tranken bei der weißen Thonpfeife. Wer dachte bei diesen glücklichen Landbewohnern an das alte Herrengeschlecht der Vansitter. Und als ich zurückkehrte –« »Vansitter!« wiederholte Fuchsius, und blickte mit einer nicht erkünstelten Verwunderung Den an, von dessen Lippen dieses Wort geflossen war. Wandel, der sich nicht aus seiner Ruhe bringen ließ, lächelte fein: »Ja, wie Ihnen wohl auch schwerlich geheim blieb, gehöre ich zu dieser, leider nur zu ausgebreiteten Familie.« – »Sie stammen aus Geldern?« – »Wo die Familie herstammt, darüber befragen Sie die Heraldiker. Ja, ein großer Theil von Geldern, Yssel, glaube ich doch sogar mehrere der größeren friesischen Inseln, gehörten zu den Besitzthümern dieser alten sassischen Dynastien. Soll ich etwa stolz darauf sein? Von der Herrlichkeit der Familie blieb nichts über als die Vansitter in Kopenhagen, und dies reiche Handlungshaus, welches vermuthlich Ihre Notiznahme veranlasst, ist schon längst durch eine Erbtochter in andere Hände übergegangen. Sic transit gloria mundi, mein Herr Regierungsrath. Die echten Abkömmlinge der Vansitter sind über die Erde zerstreut, wie Ihre Becker und Schulzen. Der Zweig, dem ich angehörte, war schon seit einem Jahrhundert aus den Niederlanden nach Dänemark übergesiedelt, aber den Grad meiner Verwandtschaft mit der großen Firma bin ich nicht im Stande Ihnen anzugeben, denn schon mein Groß-Oheim, der Gouverneur von Surinam, äußerte lachend: wenn man alle Vansitter in einen Sack würfe, würde Gott im Himmel selbst seine Mühe haben, sie wieder zu rangiren und Jeden an seinen Platz zu stellen. Ehe ich nach Amerika ging, hatte allerdings mein Vater mit seinem Bruder Moritz Wilhelm eine unserer Stammbesitzungen in Geldern, Wandel, von entfernten Vettern wieder erstanden. Aber lassen Sie mich davon schweigen, wie ich es nach meiner Rückkehr wiederfand. Nach der Schlacht von Gemappes war's geplündert, ecrasirt, die Särge meiner Vorfahren – doch genug davon! Dennoch fand ich mich bewogen, wieder den Namen Wandel anzunehmen, mit welchem Recht, das interessirt Sie nicht – aber beruhigen Sie sich, ich hätte nöthigenfalls verbriefte Nachrichten über diese Berechtigung nachzuweisen, – aber[706] das Motiv können Sie sich leicht denken. Nicht wegen des Vansitter, der von den holländischen Patrioten gehängt war, angeblich als preußischer Spion – der politischen Sphäre war ich längst fremd – aber ein anderer Vansitter hatte ja, – wars in Brüssel oder Brügge, die famose Entführungsgeschichte in der Familie Bruckerode – selbst bis in die amerikanischen Urwälder verfolgten mich die Zeitungen mit diesen saubern Familienerinnerungen. A propos, weiß man gar nicht, was aus diesem, meinem unglücklichen Vetter geworden ist?«

»Wer weiß von allen Opfern, die im Strudel der Revolution untergingen!« – »Desto besser für ihn. Ich hörte einmal dunkel, er sei mit Napoleon nach Egypten gegangen, und in Syrien wie die andern Zurückgelassenen aus dieser Welt geschieden. Wie dem sei, er hat seine Thorheiten oder seine Vergehungen gebüßt, und so wenig ich auf meine altaristokratische Abkunft stolz bin, fühle ich mich verlegen durch die präsumtive Verwandtschaft mit einem Vaurien. Wir Alle, mein theuerster Regierungsrath, leben noch für die Gegenwart. Ihr und uns gehören wir an; ein Thor, wer weiter hinaus will, und nun, Excus für die Abschweifung, zu unserer unglücklichen Geheimräthin zurück. – Hat sie wirklich noch nichts eingestanden?« – »So nehmen Sie an, daß sie etwas einzugestehen hat?«

Wandel war aufgestanden. Er schien ein schweres Wort aus der Brust zu pressen: »Ja, wie die Dinge stehen, kann ich einer Vermuthung mich nicht erwehren. Und – offenherzig – kann man ein notorisches Faktum bestreiten? Sie hat die ganze Schule an Königs Geburtstag nach den Zelten eingeladen; sie hat sie dort bewirthet mit Kaffee und Kuchen: sie selbst bereitete den Kaffee, sie hatte den Zucker mitgebracht, den Kuchen zu Haus gebacken. Die Lehrer und Hunderte von Zeugen standen umher und sahen –« »Daß drei oder vier Kinder unwohl wurden und nach Hause gefahren werden mussten, weil sie sich den Magen überladen hatten. Alle sind wieder hergestellt. Das ist ein leeres Stadtgeschwätz.« – »Gott sei Dank! Aber, unter uns, wir Beide waren im vorigen Jahre selbst Zeugen von der plötzlichen, unerwarteten gefährlichen Erkrankung der Kinder ihres Schwagers –« »Die ebenfalls auf dem natürlichsten Wege von der Welt erfolgte.« – »Das konnte sein, Herr Regierungsrath. Aber in Verbindung mit jenem nachfolgenden Faktum gewann die Sache für mich – ja, vor dem Richter ist es Pflicht, die innerste Ueberzeugung auszusprechen – sie gewann dadurch ein mehr als bedenkliches Ansehen.« Fuchsius blickte ihn verwundert an.

»Mein Herr Regierungsrath, Hamlets Wort von dem zwischen Himmel und Erde hat eine Bedeutung, die wir mit unserer Philosophie[707] nicht lösen. Erklären Sie mir den Instinkt der Kinder, der vielen jungen Mädchen, die ohne allen Grund, ohne ein denkbares Interesse, nur einem dunklen Triebe folgend, Feuer anlegen. Wie viele ähnliche, grauenhafte Erscheinungen zeigt die Kriminalgeschichte aller Völker, von sonderbaren Gelüsten, die zum Verbrechen, zur entsetzlichsten Atrocität sonst gut geartete Seelen antreiben. – Die Lupinus hat keine Kinder, ich weiß, wie der Mangel, die Sehnsucht danach auf Seiten ihres Gemüths hämmert. Sie springt Nachts aus dem Bette, wandelt umher, die Leuchter in der Hand – so sagten mir wenigstens ihre Kammermädchen – sie sucht an den Wänden und ruft: wo sind meine Kinder! Die Magie der Natur lehrt uns die Wahlverwandtschaft der Gegensätze. War der Prozeß so undenkbar, daß sie plötzlich das tödtlich hasste, was sie liebte und entbehrte, daß sie die glücklichern Eltern, die sie beneidete, verfolgte! Es ist ein schauerliches Geheimniß der Natur, eine Exception von der Regel, aber diese ganze Frau ist eine Anomalie. Angenommen dies, konnte ich sie nicht vertheidigen, vielleicht nicht mal entschuldigen, aber als mitfühlender Nebenmensch konnte ich an ihre That glauben und sie doch nicht verdammen.«

»Ich kann Ihnen die Beruhigung geben,« sagte Fuchsius, »daß so wenig als die Schulkinder in den Zelten durch Kaffee, die der Lupinus durch die Chokolade vergiftet sind.«

Wandel richtete sich auf, ein tiefer Athemzug schien ihn zu erleichtern und sein Gesicht klärte sich auf. Ehe Fuchsius sich dessen versah, fühlte er sich embrassirt: »Mein theuerster – Sie edler Mann, Ihr Wort ist Leben. Es hat eine Last, eine Angst, eine unbeschreibliche Angst von meinem Herzen gewälzt. Sie war rein, ich bin der Sünder, der das für möglich hielt, der mit seinem heillosen Argwohn – o Gott, ich weiß nicht, was ich rede – Dank, tausend Mal Dank, sie ist gerettet –« »Gemach, mein Herr!« – »Sie ist für mich gerettet. Um das Uebrige kümmere ich mich nicht.« – »Es bleibt, dünkt mich, noch viel übrig.« – »Das Andre, ich bitte Sie – nicht wahr, sie soll auch ihren Hausknecht vergiftet haben, und ihren Mann mit Bücherstaub, und ein Attentat mit Trüffelwürsten, die sie ihrem Schwager Lupinus schickte. Erlauben Sie mir, daß ich darüber lache. Nach einer so ernsthaften Stunde fühlt man zuweilen das Bedürfniß. Nun inquiriren Sie, Liebster, so viel Sie wollen, wenn Sie mir nur sagen, sie hat keine Kinder vergiftet –« »Das sagte ich nicht unbedingt.« – »Bedingt oder unbedingt, mir gleich viel.« – »Man hat eine Substanz gefunden –« »Die wie Arsenik aussieht. Liebster Fuchsius, ich will Ihnen etwas zugeben, ich will sehr viel zugeben, es ist Arsenik. O es ist zum Todtlachen! In den Bücherstaub soll sie ihn gemischt haben! Nicht wahr? Da[708] muß sie ihn vorher im Mörser stampfen, reiben, ausschütten, in ein Behältniß, eine Schachtel füllen, damit gar nichts vorbeifällt; dann muß sie es in eine Streusandbüchse thun und nun in die Stube schütten, schwenken, sprengen. Erlauben Sie mir, wenn das die Frau vermochte, ohne sich selbst zu vergiften, verdiente sie ein Prämium der Akademieen.«

»Der Staub auf seinen Lieblingsbüchern ist untersucht und Hermbstädt hat Arsenik darin gefunden.«

»Der gute Hermbstädt! Verstehen Sie mich recht, ich zweifle gar nicht daran, ich wundre mich nur, daß Hermbstädt ihn gefunden hat. Ich will ihn finden, wo Sie wollen: da hier im alten Lederrücken des Stuhls, in Ihren Pantoffeln, Arsenik ist überall, selbst in Ihrem Blute. Es kommt nur darauf an, ihn zu sekretiren. Da rufen Sie mich, Theuerster, wenn Sie die Untersuchung nicht aufgeben, und Sie sollen das Wunder sehen, aus seinen schweinsledernen Folianten will ich, vor Ihren Augen, so viel Arsenikstaub entwickeln, um das ganze Kammergericht vom Präsidenten bis zum letzten Nuntius, damit zu vergeben. Da würden manche Leute triumphiren, die immer gesagt, daß in den Büchern Gift steckt! – Au revoir!«

»Aber im Magen des Dieners stak positiv ein starker Arseniksatz. Wie erklären Sie das?«

Wandel verbeugte sich: »Gar nicht; wo das Märchen anfängt, kriecht die Vernunft in ihr Schneckenhaus. Wenn der Märchendichter ein Motiv erfindet, warum die Lupinus ihren Hausknecht vergiften musste, um ihn los zu werden, wo es ganz einfach bei ihr stand, ihn fortzujagen, wenn er ihr nicht mehr gefiel, wird er auch ein Motiv dafür finden, warum sie dem Hausknecht bei einem Dejeuner Trüffelwürste servirte. Mein Verstand steht still, ich weiß aus dem Märchen keine andere Moral zu ziehen, als daß ein Hausknecht von einer Geheimräthin sich nicht mit Trüffelwürsten muß traktiren lassen.«

Er hatte schon vorhin Hut und Stock genommen und drückte jetzt dem Rath die Hand.

»Wohin so eilig?« – »Zu meinem alten Geschäftsfreunde, dem unglücklichen van Asten.« – »Es kam ja noch nicht zum Aeußersten. Der Wein lagert in Stettin. Bis der Konkurs regulirt ist, finden sich doch vielleicht Abnehmer.«

»Wer redet davon! – Sein Sohn, sein einziger Sohn könnte ihn retten, wenn er das Mündel des Alten heirathet. Sechszigtausend – nein, mit den Zinsen müssen es jetzt achtzigtausend Thaler sein, und Demoiselle Schlarbaum ist ein hübsches, sittsames Mädchen, er hat nichts gegen sie einzuwenden, er bekäme eine vortreffliche Hausfrau, aber – der junge Mann denkt höher hinaus,[709] sie ist ihm nicht ästhetisch genug, er hat dem Vater erklärt, betteln wolle er für ihn, nur könne er das Glück seines ganzen Lebens nicht tödten, das wäre Selbstmord an seiner Bestimmung, er gehöre nicht sich allein an, es gebe höhere Pflichten, und was der sentimentalen Redensarten mehr sind. Ich sah eine Thräne im Auge des Alten, als er es erzählte. Und um dieser Tiraden und Sentiments willen lässt der junge Herr, der als ein Muster von Tugend verschrieen ist, den würdigen alten Mann, seinen Vater – ruiniren. Und das loben noch Einige, er hat doch seinen Gefühlen gehorcht! – O Menschen!«

Als der Legationsrath hinaus war sprach Herr von Fuchsius: »Sollte ich mich doch getäuscht haben?« Aber der Legationsrath trat wieder ein, ohne anzuklopfen; ja in seiner Aufregung vergaß er, den Hut abzuziehen. »Sie fanden ein Residuum von Arsenik im Magen des Menschen, des Bedienten oder Hausknechts?« – »Unzweifelhaftes Arsenikpräparat«

Wandel fuhr mit beiden Händen an die Stirn, der Hut flog ab, er selbst sank auf einen Stuhl, einige Minuten sprachlos: »Dann bin ich sein Mörder – ich verschulde indirekt seinen Tod – ich gab den Rathschlag.« – »Erklären Sie sich deutlicher, wenn ich bitten darf. Es ist vermuthlich nur eine Phantasie.« – »Nein, Wahrheit! Der Mensch litt an einem perennirenden kalten Fieber. – Die Aerzte hatten es nicht erkannt, getäuscht durch zufällige Symptome. Heim macht jetzt Versuche, das Wechselfieber mit Arsenik zu kuriren. Er wendet es bei Unbemittelten an, seit die China durch den gehemmten ostindischen Handel so enorm aufschlug. Ich erzählte in einer Gesellschaft von der ersten glücklichen Kur. – Jetzt entsinne ich mich, die Lupinus hörte mit besonderer Aufmerksamkeit zu – dieser Blick, den ich damals nicht verstand! – Ihre Wißbegierde, ihre unselige Lust, alles Gewagte zu versuchen – o arme Freundin, jetzt wird mir Alles klar, und ich – Dein Mörder! Wollen Sie mich jetzt verhaften lassen; Sie haben ja ein vollständiges Bekenntniß!« sprach der Legationsrath aufstehend.

Fuchsius hat ihn nicht verhaften lassen; aber als er jetzt hinaus war, um nicht wiederzukehren, sagte der Regierungsrath: »So kann man sich in einem Menschen täuschen. Das ist der Fluch der vorgefassten Meinungen.«

Quelle:
Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Vaterländische Romane, Berlin: Otto Janke, 4[1881], Band 7, S. 697-710.
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