Zweiundachtzigstes Kapitel.

Die Scheidestunde schlug.

[727] Als die Baronin durch die Hecke geschlüpft – sie hoffte, unbemerkt von den Verfolgern, – befand sie sich in einem schmalen Gange, der eigentlich nicht zum Spazierengehen, sondern zwischen der beschnittenen Baumhecke und einem alten Plankenzaune, mit Unkraut bewachsen und für den Kehricht des Gartens bestimmt war. Ihre Absicht war auch wohl gewesen, wenn das wilde Heer vorüber, in die Allee zu ihrem Freunde zurückzukehren. Davon wurde sie zu ihrem Schreck durch einen andern Mann, den sie nicht als ihren Freund betrachtete, abgehalten. Nein, sie fürchtete oder verabscheute den alten Herrn von Bovillard, und glaubte dazu hinlänglichen Grund zu haben, denn hatte nicht der Legationsrath in einer vertrauten Stunde ihr – wir sagen nicht Alles, aber doch Vieles vertraut, was sie nie erfahren durfte, wenn man nicht ohnedem wüsste, daß das Amtssiegel der Verschwiegenheit über die geheimen Staatsangelegenheiten in der Hinterstube des Geheimraths Bovillard nur zu oft erbrochen war. Und diesen selben Bovillard, der mit ihr und dem Rittmeister ein so grausames Spiel gespielt, dem sie in in ihrer Entrüstung geschworen, nie mehr ins Gesicht zu sehen, traf sie an dem einsamen Orte, er kam grad' auf sie zu, und hob grade den Kopf, den er gesenkt trug, ehe sie ausweichen konnte. Zu anderer Zeit kochte es in ihr, ihm Sottisen oder die Wahrheit zu sagen, was sollte sie ihm jetzt sagen, wenn er mit seinem medisanten Witze sie raillirte! Ach, aber der Geheimrath[727] war ein Anderer, in kurzer Zeit schien er um Jahre älter geworden. Wohin war der elastische Schritt, die Jugendlichkeit, die er im Umgange affectirte? Er ging bedächtig und gesenkten Hauptes. Er litt an fixen Ideen, sagte man. War es sein Stammbaum, dessen Wurzeln bis zur Schöpfung der Welt zurückwuchsen, was seinen Blick auf der Erde wurzeln ließ? Man hielt es nur für eine momentane Phantasie des aufgeklärten Lebemannes; er benutzte sie, um seinem Depit gegen die Verbindung seines Sohnes mit der Demoiselle Alltag einen scheinbaren Grund unterzulegen. Er litt, wer sollte es glauben, an einer andern Idee, die er zwar nicht deutlich aussprach, aber aus seinen hervorgestoßenen Reden erschien es, daß er an gewissen Tagen sich für vergiftet hielt, von wem anders, als der Lupinus! Auf vernünftige Vorstellungen gab der vernünftige Mann zu, daß dies unmöglich sei, da er jede gesellige Berührung mit ihr vermieden hatte; aber er nahm doch in jenen Tagen viele und starke Laxanzen. Er, der erklärte Gegner der Romantik und alles Mysticismus, las in Büchern, die man nicht auf seinem Tisch erwarten sollen, und an Aerzte, die sich jener Richtung näherten, stellte er die verblümte Frage, was sie von dem bösen Blick hielten, an den die südlichen Nationen glauben, und ob nicht eine physische Möglichkeit sei daß er der Gesundheit Anderer schaden könne? Der Geheimrath Bovillard war bereits als malade imaginaire sprüchwörtlich. Sein Gönner, der Minister mit der aufrechten Haltung, hatte ihm seine Universalkur, Karlsbad, wiederholentlich empfohlen, der Geheimrath den Rath aber von der Hand gewiesen – für jetzt. Er fürchte, es werde ihm als Furcht ausgelegt, wenn er sich aus Preußen entferne, er sei ein Patriot, darum müsse er es zeigen. Darum zeigte er sich an öffentlichen Orten; wenn auch nicht grade an dem, wo die Baronin ihm begegnete.

»Ach, meine gnädige Frau,« sagte er, nachdem von seiner Seite weder eine freudige noch eine andere Ueberraschung stattgefunden, er brachte vielmehr die Worte mit einer Art innerem Gähnen heraus, indem er neben ihr herging. »Ach, meine gnädige Frau, die Moralisten sagen, Alles in der Welt ist eitel; aber es ist nur die Wirkung aus der Ferne. Ich sehe in der Welt nicht ab, warum das eitel sein soll, was ich genieße, und es schmeckt mir. Eitel, das heißt, es verdirbt und vergeht, wird es nur durch die Einflüsse von außerhalb. Könnte Jeder seinem Penchant nachgehen, dann gäbe es keine Eitelkeit und keine Sünde, nur vergnügte Menschen. Sie lieben im Frühling die Veilchen, ich die Maibutter, wie schön duften sie am Morgen, wie aromatisch und frisch schmeckt sie zum Frühstück! Da muß ein Weltkörper viele Millionen Meilen von uns entfernt, so einwirken, das das[728] Veilchen am Abende welk ist, auch die Philosophie hilft dagegen nicht. Der böse Magnet, Dämon, was es sei in der Ferne, unsere Pfeile erreichen ihn nicht, und, was noch schlimmer, wir wissen gar nicht, wo unser Feind sitzt. So ist der Klügste nicht sicher, woher's ihn einmal überkommt, ob er auf dem Eis einbrechen, oder im Tanzsaal ein Bein brechen soll. Was ist der Krieg? Die Soldaten bilden sich ein, sie trügen ihn, und sie bluteten für uns. Aber, contrair, sie haben das Vergnügen, und der Civilist hat die Leiden; er muß zahlen und zahlen, Handel und Gewerbe stocken und wir müssen Spott, Uebermuth und Einquartierung ertragen, bis wir aus der Haut fahren. Ich will mich nicht um die Welthändel kümmern, sagt der gute Bürger. Und hat er dazu nicht ein Recht? was er nicht eingerührt hat, braucht er nicht aufzuessen. Hat der Weizenbauer in Pyritz die französische Revolution gemacht, hat er consentirt zur Pillnitzer Alliance, oder hat er Napoleon zum Kai er ausgerufen? Gott bewahre, er weiß von alledem nichts, hat nie was von dem wissen wollen; aber büßen muß er jetzt: seine Pferde werden ihm ausgespannt, Fourage muß er liefern, seine Söhne muß er hergeben zum Todtschießen, und wenn die Franzosen gewinnen, frißt und prügelt ihn die Einquartierung, sie schmeißt ihn am Ende aus Haus und Bett, wenn er eine Frau hat, alles das die Wirkung aus der Ferne, und Niemand weiß, meine theuerste Baronin, wo das Uebel ihm sitzt und von wo es kommt.«

Die Baronin schenkte ihm einen Blick, der zu verrathen schien, daß sie wenigstens die Ferne kenne, aus welcher sie die Wirkung empfunden. Der Geheimrath hatte für solche Blicke keine Augen und kein Gefühl.

»Meine Beste,« sagte er, das Gesicht in eigenthümlicher Weise verkneifend, und beide Hände gegen die Seiten stemmend, »denken wir nicht an vergangene Thorheiten. Sie sollten nach Karlsbad. Hier, Gott weiß, was hier kommt; die schwere Luft und Niemand weiß, was er in den Sonnenstäubchen runterschluckt, die er einathmet, wenn er den Mund aufthut. – Da – da können Sie ungenirt und frei leben. Ich ginge ja auch herzensgern, aber – ein Staatsmann und die Rücksichten. – Excuse!«

Mit einem raschen Sprung war er in den Gang zurück, aus dem er die Baronin unter so liebenswürdigem Gespräch bis in den Garten zurückgeführt hatte. Da trafen sich im Gewühl viele Bekannte, die wieder auf die Estraden stiegen. Die Stopfung auf der Straße war gelöst. Der Abendwind trieb den Staub nach einer jenseitigen Richtung. Herr von Fuchsius, der die vereinsamte Frau zuerst gewahrte, hatte ihr seinen Arm angeboten. Sie hätte wohl einen bessern Führer gewünscht, sagte er lächelnd, aber in[729] dem Gedränge müsse man sich schon dem ersten Besten anvertrauen. »Wer in der Gefahr vereinsamt steht, ist verloren.« Ueberall Abschiedsscenen, Thränen, Tücher. »Sie waren eben Zeugin einer der tragischesten Abschiedsscenen!« Die Baronin sah ihn verwundert an. »Herr von Bovillard scheint förmlich von seinem Verstande sich geschieden zu haben. Es ist der Abschied eines Verschwenders von seinem verschleuderten Gute. Er ist auf dem Wege, ein vollständiger Hypochonder zu werden. – Aber beachten Sie den Abschied dort, er ist weit trauriger, zwischen Vater und Sohn.«

»Zieht der junge van Asten auch ins Feld?« fragte die Baronin, denn dieser war es, dem sein Vater nach einem langen, wie es schien, eindringlichen Gespräch plötzlich den Rücken wandte. »Nur in die Freiheit – und der Alte vielleicht in das Schuldgefängniß.« Das Verhältniß war stadtkundig: »Mein Gott, wer hat denn da nun Recht? Der junge Walter ist auch ein so braver Mann!« Der Rath zuckte die Achseln: »Baroneß, das sind Fragen, auf die nur der liebe Gott Antwort weiß.«

Die Baronin drückte plötzlich die Hand ihres Begleiters und der Freudenstrahl in ihrem Auge schien zu sprechen, daß der liebe Gott wohl Antwort gegeben habe. Der alte van Asten, der noch eben den Stock mit beiden Armen unmuthig auf die Erde gestampft und den Hut in die Stirn gedrückt hatte, um den Garten zu verlassen, war plötzlich stillgestanden. Eben so rasch wandte er sich um, und fiel dem Sohn, der ihm wehmüthig nachgesehen, um den Hals. Ob sie etwas gesprochen und was, wer konnte das hören, besonders jetzt, wo wieder ein feierlicher Marsch von Blaseinstrumenten durch die einbrechende Dämmerung schmetterte. Die Baronin riß ihren Führer auf die Estrade. War erst jetzt die Ordre gekommen? Die Gensdarmen zogen aus der Stadt, um in einem benachbarten Dorfe Nachtquartier zu halten. Noch war es hell genug um sich zu erkennen, und ein letzter rother Schimmer färbte die Federbüsche und Gesichter der Reiter. Die Baronin ließ ihr Tuch wehen, er sah es und salutirte mit dem Degen. Sie sprach kein Wort, aber unverwandten Blickes starrte sie hin, bis die Gestalt sich in der Menge verlor, dann lehnte sie sich, wie erschöpft, auf die Schulter des Rathes. »Wir werden uns wiedersehen!« kam es wie aus tiefster Brust. – Unfern von ihr schrie eine andere weibliche, Stimme: »Ich werde ihn nie wiedersehen! Was soll aus mir werden!« Charlotte war auf eine Bank gesunken. Zum Glück stand jetzt neben ihr ein ältlicher Herr – denn unter den übrigen Zuschauern schien keiner sich um den andern zu kümmern, ihre Blicke und ihre Gedanken gehörten den schönen, jungen ausmarschirenden Reitern allein an. Der ältliche Herr klopfte ihr auf[730] die Schultern: »Charlotte, weine Sie nur nicht, gebe Sie sich zur Ruhe, es wird sich schon Alles finden, und ich verlasse Sie nicht.«

Es war eine besondere Stimmung unter Allen, sehr verschieden von der lauten beim Vorüberziehen der frühern Regimenter. Hatte der Abend sie gemacht? Waren die Gensdarmen grade die Lieblinge der Zuschauer? Man hörte keine lauten Hurrahs, keinen jubelnden Zuruf, nur unterdrücktes Schluchzen. Vielleicht that's die Regimentsmusik; sie spielte die Melodie eines alten Volksliedes von Morgenroth und frühem Tod. Nachher flüsterte man sich zu: Prinz Louis sei in seinem Mantel verhüllt unter dieser Schwadron in der Stille mit ausmarschirt. In den Sälen, die als sehr bescheidene Pavillons des auch bescheidenen Restaurationsgebäudes in den Garten ausliefen, hatten einzelne Familien und Gesellschaften zum Abendbrod sich vereinigt. Die Lichter wurden schon angezündet, es sah aber wenig festlich aus, trotz der Astern und anderer Herbstblumen, die eine sorgende Hand wohl hie und da auf den Tisch gestellt. Luft und Boden, die Dielen auf dem Erdreich liegend, waren kalt und feucht, die Frauen hatten ihre Enveloppen, die Männer ihre Ueberröcke umgethan. Es war auch sonst ein Etwas, was die helle Freude nicht aufkommen ließ.

In einem dieser Pavillons hatte der Geheime Kriegsrath Alltag seine Familie und einige Bekannte vereinigt. Als Fuchsius die Baronin vorüberführte, um sie nach ihrer Equipage zu geleiten, rief sie, durch die hellen Fenster blickend: »Herr Je – da geht ja Adelheid mit dem jungen van Asten.« – »Er war ihr hochverehrter Lehrer,« sagte der Rath, »und der alte Alltag hat zum Abschied alle nächsten Angehörigen zu sich gebeten« – »Geht er auch mit in den Krieg?« – »Er nicht, aber seine Tochter. Die Königin folgt ihrem Gemahl ins Hauptquartier, und Mamsell Alltag ist, als Gesellschafterin der Viereck, bestimmt. Ihre Majestät zu begleiten.« – »Das ist eigen,« sagte die Baronin, »das schöne junge Mädchen in den Krieg! Was man nicht erlebt! Wissen Sie wohl, was ich glaube?« – »Gewiß etwas Richtiges.« – »Der Alte mochte damals nicht die Brautschaft. Jetzt, glaube ich, gäbe er etwas drum, wenn die Adelheid beim jungen Asten geblieben wäre. Er ist ein solider Mensch, und die Leute meinen, er wird eine gute Karriere machen. Hübsch ist er nicht, aber es ist so etwas in ihm – man traut ihm aufs Wort.«

Möglich, daß die Baronin das Richtige getroffen hatte. Der alte Alltag, der schweigsam in der Gesellschaft umherging, drückte bei einer Gelegenheit ganz besonders die Hand des jungen Asten, dankte ihm mit gerührter Stimme, daß er seine Tochter zu dem gemacht, was sie sei. Rührung war weder sonst noch jetzt das Departement des Geheimen Kriegsrathes. Die Geheimräthin[731] brachte selten das Tuch von den Augen. Sie unterhielt sich mit dem alten Rittgarten, er musste ihr vom Krieg erzählen, wie weit man sich herangetrauen könne ohne Gefahr, ob die Franzosen auch auf Frauenzimmer schössen? Nie war sonst ihren Gedanken etwas entfernter gewesen. »Sie ist noch gar nicht gereist, das Kind, einmal nur bis Potsdam, und nun muß ihre erste Reise gleich in den Krieg sein! – Wer hätte das nur als möglich gedacht; es wird doch Alles anders, als es sonst war.« – »Alles – Alles!« sagte der alte Major, den Kopf schüttelnd, die Pfeife musste ihm heut nicht schmecken. »'S ist Fügung des Himmels; das muß uns wohl trösten,« sagte die Geheime Kriegsräthin, »aber – aber –« »Der Himmel fügt es, daß Alles aus dem Gefüge geht, und es wird noch mehr losgehen. Er weiß, warum. Es muß wohl nicht recht zusammengefügt gewesen sein.«

Eine Konversation kam nicht auf. Wer zu sprechen anfing, brach plötzlich ab, im Gefühl, daß es Wichtigeres zu sprechen gab, und die Zeit war kostbar. Und dann hatte Jeder mit dem Andern etwas Besonderes zu sprechen. Wenn er fortgegangen, fiel ihm ein, daß er das vergessen, was ihm besonders auf dem Herzen lag. Welch ein Strom mütterlicher Ermahnungen war von den Lippen der Mutter geflossen, und immer besann sie sich, daß sie doch noch etwas Anderes, etwas Neues zu sagen hatte.

Jetzt nahte die Scheidestunde. Adelheid konnte nicht zum Abendessen bleiben, der Wagen der Hofdame, der sie nach dem Palais bringen sollte, war angemeldet. Der Vater hatte eigentlich am wenigsten mit ihr gesprochen. Jetzt legte er seine Arme auf ihre Schultern: »Du, mein geliebtes Kind, mein Bijou! Nun ich Dich verlieren soll, begreife ich erst, was ich in Dir gehabt habe. Und was ich hätte in Dir haben können, dann wäre ich Dir mehr gewesen und Du mehr mir. Ich hätte Dich besser verstanden, und Manches wäre besser – vielleicht! Aber es hat nicht sein sollen. Andere sagen, der Mensch gehöre zuerst sich selbst und seiner Familie, und dann erst seiner Pflicht gegen den Staat. Ich verstand es anders. Gott wird wissen, wer Recht hat. Wenn Alles in der Welt wechselt, so wechseln wohl auch die Ansichten über die Pflichten. Aber ich glaube doch, wer das thut, was er gelernt hat, daß es recht sei, der thut Recht, und der himmlische Vater wird ihm vergeben, wenn er dabei auch mal Unrecht thut. –«

Adelheid an seinem Halse wollte nichts davon wissen, daß ihr Vater gegen sie Unrecht gethan; sie habe sich anzuklagen, daß sie nicht alle Pflichten eines Kindes gegen ihn erfüllt.

Er schüttelte den Kopf: »Du warst ein ausgezeichnetes Kind, und für die hat die Vorsehung wohl besondere Gesetze. Sie führt sie Wege, die uns nicht gut dünken, aber sie leiten zum Ziel, das[732] wir nur nicht sehen. So ist's mit Dir gekommen, und so wird es noch weiter kommen. Es wird Vieles besser werden, als wir denken – und – wir werden uns wiedersehen und froher als heut –«

Endlich musste doch die Glasthür geschlossen werden, von der Zugluft schmolzen schon die Talglichter. Die Geschwister wollten mit; anfänglich die Mutter auch, sie fühlte sich zu schwach. Die Kinder aber konnten sich im Gedräng und der Finsterniß verlieren. So machte es sich denn wie von selbst, daß van Asten seine ehemalige Braut allein nach dem Wagen begleitete.

Die Sterne funkelten hell am klaren Herbsthorizont, als sie aus dem Baumgang traten. An der Hinterpforte stand der Wagen. Sie reichte ihm die Hand. Mit ihrer Silberstimme sprach sie: »Walter, hinter uns ist es klar; ich hoffe es wird auch vor uns immer klar bleiben.« Er schlug ein: »Es werden noch viele Nebel aufsteigen, bewahre Deinen hellen Blick und dann bleibt es zwischen uns klar.« – »In keinem Fältchen Deines Herzens ist ein Groll,« sprach sie »nicht wahr? – Das giebt mir Muth. Aber –« Sie zauderte. »Sprich es aus!« sagte er. »Es soll gar kein Fältchen zwischen uns bleiben.« – »Ich möchte Dich auch ganz zufrieden, ganz klar mit Dir selbst verlassen. Bin ich's noch, Walter, die wie eine Nachtwolke zwischen Dir und Deinem Vater schwebt, den Wünschen des Mannes, dessen Glück und Frieden Dir das Theuerste sein müsste?«

»Und wenn Du es wärest, was kannst Du dafür? Kann der Nordpol dafür, daß der Magnet nach ihm zeigt? Es wäre die Arbeit eines Narren, den Magnet zwingen zu wollen, daß er nach einer andern Himmelsgegend weist. Das sind ewige Nothwendigkeiten, vor denen sie sich beugen sollen und müssen, die nicht Muth haben, sie freiwillig anzuerkennen. Dieser überreichen Welt an Allem fehlt nur etwas – Charaktere. Ich bilde mir nicht ein, sie bessern zu wollen, dazu fühle ich mich zu schwach, aber ich bin stark genug, mich nicht von ihr bilden, fortreißen zu lassen.«

»Lebe wohl, Walter!« sprach sie mit erstickter Stimme. »Ich habe den Glauben: es ist kein Lebewohl für immer. Wir sehen uns wieder.« Sie drückte, sich auf den Zehen hebend, einen Kuß auf seine Stirn; dann schwebte sie in den Wagen, er rollte fort.[733]

Quelle:
Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Vaterländische Romane, Berlin: Otto Janke, 4[1881], Band 7, S. 727-734.
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