Der 13. Dezember 1918,

5 Uhr morgens

[352] Du stehst, Peter, also endlich, nach langen irrsinnigen Kämpfen, mit Dir selbst, und mit dem ganzen Leben überhaupt, soweit es sich auf Deine, armselige und dennoch ach so komplizierte Persönlichkeit[352] bezieht, vor Deinen eigenen unüberbrückbaren Abgründen! Jeder hat solche, aber er erkennt sie nicht, überläßt sich daher klaglos dem scheinbar unentrinnbaren Schicksale seines eigenen desolaten und verworrenen Lebens. Viele nehmen die Browning zur Hand, aber Viele auch nicht! In einer solchen Krise meines unglückseligen Daseins schreibe ich noch rasch diese Zeilen nieder, für die Anderen, für die Anderen, die ähnlich empfinden und rettungsbedürftig sind gleich mir ohne es leider aussprechen zu können gleich mir! Ich kann es wenigstens noch aussprechen vorderhand, wer weiß, wie lange noch?!? So lange hält man mich noch für einen Dichter! Einer, der Das aussprechen kann, was alle, alle Anderen empfinden und wissen, aber stumm, stumm, in tragischester Stummheit! Der Dichter aber kann schreien, flehen, fluchen, laut weinen, schamlos, rücksichtslos, unange nehm verzweifelt über die unabänderlichen gewöhnlichen und dennoch schrecklichen Dinge dieses allerhärtesten Daseins! Das ist ein Dichter, sonst gibt es keinen, Einen, der die stumme Lebens-Last aller Anderen laut tönend auf sich nimmt, um zu retten! zu helfen! Das allein ist ein Dichter! Alle Anderen sind unnütz und vergeblich. Aus verbrecherischer Gutmütigkeit erkennt man sie an, obzwar man es genau weiß, daß man sie für sein karges Lebensglück in keinerlei Weise brauche!

Ein Dichter hat heutzutage, in diesen schweren Bedrängnissen von allen Seiten her, der privaten Seele zu helfen, viel mehr als ein Arzt (?!?) und ein Freund (?!?). Er hat, von oben herab,[353] das Schicksal eines Jeden, einer Jeden, zu überschauen, und in die Wirrnisse eines Jeden Klarheit zu bringen, weil Das allein sein Beruf ist auf Erden! Andere haben andere Verpflichtungen, aber der Dichter hat nur Diese. Sonst ist er keiner! Man nütze ihn demgemäß aus, dazu ist er allein da!

Sich in das Leben eines anderen Organismus einzumengen, um ihm herauszuhelfen, ist eine Verbindung von Idiotismus, Größenwahn und unberechtigter Herrschsucht! Niemand kennt den Anderen oder jedesfalls nicht genügend. Freundschaftlicher Dilettantismus ist die tiefste Gefahr. Lasset sie lieber ihre geheimnisvollen Wege respektvoll wandeln und habet infolgedessen nicht Schuld an den Irrpfaden, in die Ihr sie aus falscher Gutmütigkeit hinweglockt! Habt Ihr keinen Respekt vor Euch ganz fremden, nur leider scheinbar gleichen, Welten?!? Könnt Ihr Eure Ratschläge verantworten?! Kennt Ihr Euch in diesem Labyrinthe »der Anderen« wirklich aus?!? Wie leicht macht Ihr es Euch meistens, Euch zurechtzufinden!

Wie dankbar, ja direkt erlöst wäre der Andere, wenn er in Eurer milden Intelligenz, in Eurer vorurteilslosen Seele, die Photographie seiner eigenen Persönlichkeit zu erblicken vermöchte?! Aber nein, Ihr zwängt ihn in jenes durchaus falsche willkürliche Bildnis, das Ihr noch von ihm begreift und das ihr direkt von ihm haben wollt! Er darf nicht Der sein, der er ist, sondern Der, wie Ihr ihn noch am besten brauchen oder genießen könnt! Verzweifelt möchte sich der Andere gegen dieses ihm aufgezwungene Schicksal der Beurteilung erwehren, aber der »Andere« arbeitet mit den geschicktesten,[354] ja perfidesten Mitteln, seine Auffassung immer unentrinnbarer bei sich selbst durchzusetzen gegen den wehrlos gemachten Gegner. So leben die Meisten mit einander, nein, gegen einander!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 352-355.
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