Der Abend

[348] Der Abend bricht gleichsam über Deinem sowieso durch hundert unnennbare oder sogar fast nennbare Dinge verstümmelten arg mißratenen Tage stets jäh zusammen. Deine Hoffnungen waren ebenso lächerlich und unbegründet wie Deine fast an Irrsinn grenzenden Verzweiflungen. In dem Meere frechster dümmster Verlogenheiten versuchtest Du es tagsüber, geschickter oder meist ungeschickter, mitzuschwimmen mit den anderen Idioten, die nur noch mit ausgesuchter äußerlicher Frechheit für dieses »Nicht-leben« ausgestattet worden sind von einem nicht beneidens-werten, tragisch-lächerlichen Schicksale. Die Wenigen, denen es gelingt, denen gelingt gar nichts, mitgezerrt wurden sie nämlich von der idiotisch hastenden Herde, um zu vergessen, daß sie doch vielleicht hörende, schauende, erschauende, spürende, denkende Objekte sind oder hätten vielleicht sein können[348] irgendwie. Der schwächlich stille Abend findet Dich stets bei Deinem eigenen Sedan oder Waterloo, Deinen eigenen nichtigen Lebensplänen. Das Bett erwartet Dich noch liebevoll scheinbar, also der halbe Tod oder der viertel. So Vielen gelingt es, aber was, nichts! Das eigene Innere erbaut sich Niemand auf, im Gegenteile, er zerrüttet es sich direkt absichtlich. Zu solchem Aufbau gehört nicht Hoffnung, nicht Mut, sondern genialste Stahl-Kraft des eigenen Inneren! Wer sich selbst aufzubauen die Kraft hat, baut alle Anderen um sich herum vorerst ganz ab, die ihn daran irgendwie hindern! Es ist nicht wahr, daß Dein schwarzer Gehrock nur Dein schwarzer Gehrock ist oder Dein Hut, Dein Schirm; es sind die natürlichen Requisiten Deiner künftigen elenden Grabes-Toilette! Sei, der Du bist, und ja nie der, den die anderen von Dir meuchlings je verlangen! Sie verlangen nämlich von Dir nur die schamlose Toilette ihrer eigenen Nichtigkeiten, nur um sich vor Dir nicht blamiert zu fühlen! Du sollst Dich ihnen unterwerfen, Hugo Wolf dem Franz Lehàr! Tuet es ja nicht, gehet in Euren schäbigen Gewändern in Eure Grüfte! Und lachet ihres Lachens! Der Abend entkleidet Dich aller Deiner sogenannten Tages- und Lebens-Würden. Wehe dem, der sich von der schändlich-blöden Nichtigkeit seines eigenen, Lebens selbst frech täuschen läßt, in ihm bohrt ununterbrochen der Wurm seines eigenen an ihm zehrenden Nichts. Wen will er täuschen?!? Frau, Kind, Geliebte, Eltern?!? Unglückselige! Schon sein falsches Lachen verrät ihn der schamlos genial unerbittlichen Menschheit. Und seine Fröhlichkeit ist teuflisch, denn vielleicht lauert bereits heimtückisch[349] der tragische Zungenkrebs! Der Abend ist Dein »Sedan«, Dein »Waterloo«, wenn Du auch noch so elegant rasiert bist! Was Du nicht warst, nicht bist, nie werden wirst, bringen Dir schauerlich Deine Abendstunden!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 348-350.
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