Tagebuchblatt

[109] Sie schrieb in ihr reizendes modernes Tagebuch ein: »Daß ich meinem verehrtesten Freunde 100 Kronen aus seiner Brieftasche entwendet habe, um ihm einen von ihm längst ersehnten Gegenstand, den er sich selbst zu kaufen nie sich den Luxus gegönnt hätte, zu Weihnachten zu schenken, das nehmen mir die Leute, denen ich es aufrichtigst, ja fast freudigst, eingestanden habe (ich habe mein ›Gewissen‹ entlastet) übel. Aber die vielen, liebevollen[109] Blicke, die ich seiner, von mir tief geachteten Seelenruhe zuliebe, unbeachtet gelassen habe (schließlich bin ich ja auch eine junge hübsche Person), davon hat Niemand anerkennend, achtungsvoll je Erwähnung getan! Besser, meinem Geliebten 100 Kronen stehlen als das, was er dringender braucht, meine unzerstörbare Anhänglichkeit! Und wenn ich ihn bestohlen hätte, um mir selbst sogar Etwas dafür zu kaufen, Er wäre noch lange nicht ähnlich so bestohlen worden wie Ihr Anderen die Eurigen durch Blicke, Lächeln, Schweigen, Erröten, Erbleichen öffentlich geheim ununterbrochen bestehlet!

Ja, ich stahl meinem Geliebtesten 100 Kronen, diesmal für Ihn, nächstens vielleicht für mich, und dennoch bestehle ich ihn nie!«

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 109-110.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]