Kleine philosophische Abhandlung über den Wert der Voraussicht

[79] Principiis obsta! Im Anfange gleich müßte man sich wehren, sich entgegenstemmen! Dies wird ein Fundamentalsatz werden in der Entwicklung des modernen Gehirnmenschen. Das Vorauserblicken von drohenden Gefahren in körperlicher, seelischer und ökonomischer Hinsicht, also in bezug auf die drei. Quellen unserer Lebensenergien!

Der moderne Gehirnmensch wird in seinen Clairvoyancen, in seinem Cassandrablicke den Eindruck machen müssen für die noch nicht Fortgeschrittenen eines Verfolgungswahnsinnigen! So wenig wird die unerbittliche Logik seines Vorauserkennens von den anderen noch erfaßt werden können!

Die Milliarden von Gefahren, die dem Körper, der Seele und der dritten lebenspendenden Kraft unseres Organismus, unserem Gelde, drohen, werden dem modernen Gehirnmenschen mit einer so ungeheuren und übertriebenen Deutlichkeit erscheinen, daß diese ihn zwingen wird, vorzeitig Vorkehrungen zu treffen zur Abwehr. Schicksalergeben sein ist eine Stupidität. Ich habe das Wort geprägt »Der Mörder Optimismus«! Die dumme Froheit des Leichtsinnes muß ersetzt werden durch die Bismarck-Weisheit unerbittlichen Voraus-Erkennens.

»Eine Lawine – – –!« schrie der Kenner, sah ein Kieselsteinchen ins Rollen kommen und sprang zur Seite.[79]

»Wo?! Ich sehe nichts!« sagte der sorglose Spaziergänger und war bereits verschüttet und begraben.

Dieses mein hier vorgebrachtes Prinzip hat vor allem seine kraftspendende, kraftersparende Anwendung auf jene furchtbare und tückische Erkrankung unserer Seele, »Eifersucht«, diesem wirklichen Krebs der Seele, diesem Aufzehrenden unserer Lebensenergien! Man kann da überhaupt nicht vorausschauend genug sein! Je früher man sich zurückzieht, je heftiger der gleichsam begründete Vorwurf, wir hätten nur Verfolgungswahn, uns trifft, desto gesünder für unser Seelenheil! Die Kraft unseres liebevollen Herzens, diese wirklich göttliche Kraft in uns müssen wir uns doch wirklich aufsparen für Seelen, die daran reich und glücklich werden können und so uns belohnen durch ihren eigenen erhöhten Frieden! Ein Steinfeld mit edlem Weizensamen besäen?!? Wie töricht! Wie zwecklos!

In bezug auf den »seelischen Schutz« bei Eifersuchtserkrankungen finde ich eine gewisse Anekdote einfach für kernschußtreffend:

Ein Gast saß in einem Restaurant und die riesige Dogge eines Nachbars beschnupperte ihn. Infolgedessen gab er dem Tier einen schrecklichen Faustschlag auf die Nase. Der Besitzer des Tieres stellte ihn nun zur Rede und sagte: »Wie können Sie den Hund so schlagen, er hat Sie ja bloß beschnuppert – – –?!?«

»Ja, soll ich warten, bis ich ihm schmecke?!?« erwiderte der Gast. Principiis obsta! Im Anfang gleich sich zur Wehr setzen.

Ein Herr sagte zu einem anderen:[80] »Weshalb machen Sie eine ›Saureoberskur‹ durch, seit Monaten, mein Herr?!? Sie sind ja blühend und gesund!?!«

»Wenn ich erst dann saures Obers, dieses moderne Göttergetränk, anfinge zu trinken, bis ich es nötig hätte, wäre es bereits zu spät – – –«

Eine Dame sagte: »Karl, Karl, du machst mir eine Szene, wie wenn ich wirklich schon etwas angestellt hätte ... Das ist doch furchtbar ungerecht von dir – – –« – »Ich weiß. Hildegarde, daß eine Szene nachher dir lieber gewesen wäre!«

Ein Kaufmann sagte: »Drei Jahre lang habe ich von meinem Kapital abgeschrieben. Aber das vierte Jahr könnte ich es mit einem Schlage dennoch hereinbringen«.

Mit einem Schlage. An diese feige Phrase klammerte er sich wie der Ertrinkende an einen Strohhalm.

Mit einem Schlage aber sagte er Konkurs an.

Dieser feige tückische Mörder »Optimismus«!

Bismarck träumte nicht: »Vielleicht wird ein Deutsches Reich erstehen – – –«.

Er wußte es! Er hatte es mathematisch ausgerechnet in seinen vorausschauenden göttlichen Kräften. Infolgedessen ist er ein moderner Mensch par excellence!

Sein möglich erreichbares Reich vorausschauen können ist alles! Es ausrechnen können, nicht es erträumen!

Darin besteht die Kultur, eine Übersicht zu haben über seine Lebenskräfte und danach alles einzuteilen!

Was nützte dir Sehnen und Erhoffen?!? Schreite den Weg deiner dir zugemessenen Kräfte![81]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 79-82.
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