Die ruhigen Stunden

[206] Ich bin erstaunt über die ruhigen Stunden – – –

und dennoch kommen sie!

Wie eine Krankheit, die man überwunden – – –.

Man nennt den süssen wunderbaren Namen dann so sanft und klar:

»Ljuba – – –«

und weiss nicht mehr, dass er vor einer Stunde noch schwer und bitter war,

ein Schicksal in sich tragend,

kränkend, nagend!

Ich bin erstaunt über die ruhigen Stunden.

da bei Café, Cigarrette und der Presse

man wieder nimmt am Alltag Interesse.

»Wo wird sie sein und wie, was wird sie thun und lassen?!?

Trägt sie die blaue Seiden-Blouse, schläft sie gut?!?

Fühlt sie sich glücklich, fühlt sie sich verlassen?!?«

Bedrückende Gespenster-Fragen, sie verblassen

im Tageslicht des Alltags!

Und die Seele ruht – – –.

Ich bin erstaunt über die ruhigen Stunden,

da bei Café, Cigarrette und der Presse

man wieder nimmt am Alltag Interesse.[206]

Doch wie ein Fieber, das sich mälig kündet, heranschleicht aus den tiefsten Gründen kranker Herzen,

man war noch eben aufgelegt zu scherzen,

kommt nun die Unruhe, drückt dich nieder,

macht zur Moment-Tragödie den Alltag wieder!

»Wo wird sie sein und wie, was wird sie thun und lassen?!?

Trägt sie die blaue Seiden-Blouse, schläft sie gut?!?

Fühlt sie sich glücklich, fühlt sie sich verlassen?!?«

Und schmerzen wieder hundert Sehnsuchts-Wunden,

ist man erstaunt über die ruhigen Stunden![207]

Quelle:
Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 12–131924, S. 206-208.
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