Am Lande

[95] Anita und Albert sitzen Nachmittags in der Veranda in ihrer See-Villa.

Die Veranda funkelt in rubinrothem Weinlaub. Albert raucht »Henry Clay, Perfectos«, liest »Zola, Germinal«.

Die Dame blickt in den See-Garten.

An den Büschen hingen rothe durchschimmernde Beeren und schwarze undurchsichtige. Kleine Vögel, Schwarzblattl'n verliessen lautlos einen Zweig, verschwanden lautlos. Die Wiesen waren lila getupft mit Herbstzeitlosen. Die Buchenzweige waren wie feine braune Netze, ausgespannt auf hellblauem Untergrunde. Braune Blätter baumelten daran wie müde eingeschrumpfte Schmetterlinge. Von den Nussbäumen[95] regneten Blätter langsam herab – – –. Die Dame fühlt: »Das Adieu-sagen der Natur – – –!«

Die Dame blickt auf den See hinaus.

Der See:

5 Uhr: blinkend wie scharfgeschliffene Toledaner-Klingen im Gefecht. Das Höllengebirge ist wie leuchtende Durchsichtigkeit.

6 Uhr: hellblaue Teiche und Streifen in bronzefarbigem Wasser. Das Höllengebirge wird wie rosa Glas.

1/2 7: Citronen-gelber See vom Sonnen-Scheiden, ein Hauch von Lila, wie Heliotrope-Dunst. Das Höllengebirge wird wie Amethyst.

7: kupferrothe und flaschengrüne Streifen und Teiche in grauem Wasser. Das Höllengebirge erbleicht – – –.

Der Bankdirektor schliesst sein Buch, macht ein kleines Eck als Merkzeichen. Er denkt: »Germinal –! Das ist die erste Stufe, der Keller der Menschheit, Arbeit unter der Erde und wenig Seele – – –. Wir sind die zweite, Arbeit ober der Erde und etwas Seele – – –. Anita ist die dritte Stufe, keine Arbeit, über der Erde und überschüssige Seele – – –.«

Er berührt sanft die Hand seiner Frau, sagt lächelnd: »Komm' zurück – – –.«

Dann geht er hinein, schliesst leise die Glasthür der Veranda.

1/2 8: Der See ist wie Blei, wie eingedickt. Das Höllengebirge ist weissgrau, wie eine ohnmächtige Jungfrau.[96]

8: ein kleiner runder Teich fern am See flimmert wie Silber: »Bonsoir« des Mondes – – –.

»Tragen Sie das Souper noch nicht auf, Marianne – –« sagt der Gatte drinnen zu dem Stubenmädchen, »wir warten – – –.«[97]

Quelle:
Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 8–91914, S. 95-98.
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