Montag.

[21] »Höre einmal,« sagte der Sandmann am Abend, als er Friedrich zu Bette gebracht hatte, »nun werde ich aufputzen!« Da wurden alle Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, welche ihre langen Zweige unter der Decke und längs der Wände ausstreckten, sodaß die ganze Stube wie ein prächtiges Lufthaus aussah; alle Zweige waren voll Blumen, und jede Blume war noch schöner als eine Rose, duftete lieblich, und wollte man sie essen, so war sie noch süßer, als Eingemachtes! Die Früchte glänzten gerade wie Gold, und Kuchen waren da, die vor lauter Rosinen platzten – es war unvergleichlich schön! Aber zu gleicher Zeit ertönte ein erschreckliches Jammern aus dem Tischkasten, wo Friedrichs Schulbücher lagen.

»Was ist das?« sagte der Sandmann und ging nach dem Tisch und zog den Kasten auf. Es war die Tafel, in der es riß und wühlte, denn es war eine falsche Zahl in das Rechenexempel gekommen, sodaß es nahe daran war, auseinander zu fallen; der Griffel hüpfte und sprang an seinem Bande, gerade als ob er ein kleiner Hund wäre, der dem Rechenexempel helfen möchte; aber er konnte es nicht. Und dann war es Friedrichs Schreibebuch, in welchem es auch jammerte; o, es war häßlich mit anzuhören! Auf jedem Blatte standen der Länge nach herunter die großen Buchstaben, ein jeder mit einem kleinen zur Seite, das war eine Vorschrift; neben diesen standen wieder einige Buchstaben, welche glaubten ebenso auszusehen, und diese hatte Friedrich geschrieben; sie lagen fast so, als ob sie über die Bleifederstriche gefallen wären, auf welchen sie stehen sollten.[21]

»Seht, so solltet Ihr Euch halten«, sagte die Vorschrift. »Seht, so zur Seite, mit einem kräftigen Schwung!«

»O, wir möchten gern,« sagten Friedrichs Buchstaben, »aber wir können nicht, wir sind so jämmerlich!«

»Dann müßt Ihr Kinderpulver haben!« sagte der Sandmann.

»O nein!« riefen sie, und da standen sie schlank, daß es eine Lust war.

»Jetzt wird keine Geschichte erzählt,« sagte der Sandmann, »nun muß ich sie exerzieren. Eins, zwei! Eins, zwei!« Und so exerzierte er die Buchstaben, und sie standen so schlank und schön, wie nur eine Vorschrift stehen kann. Aber als der Sandmann ging und Friedrich sie am Morgen besah, da waren sie ebenso elend als früher.

Quelle:
Andersen, H[ans] C[hristian]: Sämmtliche Märchen. Leipzig 31[um 1900], S. 21-22.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Märchen
Märchen und Geschichten
Der Tannenbaum. Ein Märchen
Mutter Holunder und andere Märchen
Hans Christian Andersen Märchen: Bilder von Nikolaus Heidelbach. Sonderausgabe
Hans Christian Andersen:Sämtliche Märchen