Sie bittet ihn, daß er sie, sein Schäflein, als ein guter Hirt wolle in seinen Schafstall bringen

[137] 1

Guter Hirte, willst du nicht

Deines Schäfleins dich erbarmen

Und nach deiner Schuld und Pflicht

Tragen heim auf deinen Armen?

Willst du mich nicht aus der Qual

Holen in den Freudensaal?


2

Schau, wie ich verirret bin

Auf der Wüste dieser Erde,

Komm und bringe mich doch hin

Zu den Schafen deiner Herde.

Führ mich in den Schafstall ein,

Wo die heilgen Lämmer sein.


3

Mich verlangt, dich mit der Schar,

Die dich loben, anzuschauen,

Die da weiden ohn Gefahr

Auf den fetten Himmelsauen.[137]

Die nicht mehr in Furchten stehn

Und nicht können irre gehn.


4

Denn hier bin ich sehr bedrängt,

Muß in steten Sorgen leben,

Weil die Feinde mich umschränkt

Und mit List und Macht umgeben,

Daß ich armes Schäfelein

Keinen Blick kann sicher sein.


5

O Herr Jesu, laß mich nicht

In der Wölfe Rachen kommen,

Hilf mir nach der Hirten Pflicht,

Daß ich ihnen werd entnommen.

Hole mich, dein Schäfelein,

In den ewgen Schafstall ein.


Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 137-138.
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