Sie erinnert ihn seiner Zusage

[147] 1

Liebster Bräutgam, denkst du nicht

An die teure Liebespflicht,

Da du dich mit tausend Wunden

Meiner Seelen hast verbunden?


2

Denkst du nicht an deinen Spott,

An das Kreuz und an die Not

Und an deiner Seelen Leiden,

Da sie sollte von dir scheiden?
[147]

3

Weißt du wohl, daß deine Pein

Mein Erlösung sollte sein?

Und wie muß ich dann auf Erden

Noch so lang gequälet werden?


4

Bin ich dir als eine Braut

Schon verlobet und vertraut,

Warum läßt du meine Seele

In des Leibes Trauerhöhle?


5

Bin ich dein und bist du mein,

Warum läßt du mich allein?

Warum willst du mich, mein Leben,

Nicht alsbald zu dir erheben?


6

Ich verschmachte vor Begier,

Die mein Herze hat nach dir.

Ich vergehe vor Verlangen,

Dich zu sehn und zu umfangen.


7

Denke doch, o Gottes Lamm,

Daß du bist mein Bräutigam.

Denke, daß dirs will gebühren,

Deine Braut zur Ruh zu führen.


8

Nimm mich, Liebster, in dein Reich,

Mach mich den Erlösten gleich.

Nimm mich aus der Trauerhöhle,

Jesu, Bräutgam meiner Seele.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 147-148.
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