Sie küßt die Füße Jesu Christi

[104] 1

Verwundter Heiland, sieh nicht an,

Daß ich so mißgehandelt

Und mit den Sündern auf der Bahn

Der Bosheit hab gewandelt.

Ich komme nun zu deinen Füßen

Und küsse sie mit tausend Küssen.


2

Die Zunge bebt und spricht nicht viel,

Das Haupt sinkt zu der Erden.

Die Tränen sagen, was ich will,

Es reden die Geberden.

Erhör mein Herz, o große Güte,

Und das zerknirschete Gemüte.


3

Laß mich nur solche Gnad und Huld,

Wie Magdalen, erlangen

Und Ablaß meiner Sünd und Schuld

Aus deinem Mund empfangen.

Heiß mich so voller Trosts aufstehen

Und, gleich wie sie, befriedigt gehen.


4

Ich will dich lieben ohne Maß

Und nimmermehr verlassen,

Mit Herzenstränen machen naß

Und als ein Kind umfassen.

Ich will dich lieben, meine Seele,

Gib mir nur deiner Wunden Öle.
[105]

5

Ihr armen Füße seid geküßt,

Die ihr für mich zerschlagen,

Die ihr für meine Taten büßt

Und traget meine Plagen.

Hätt ich doch nie gelebt in Sünden,

Daß ihr nicht dürftet dies empfinden!


6

Verstoßt mich doch nicht, weil mirs leid,

Weil ich die Schuld bekenne,

Vergebt, weil ich mich allbereit

Von Herzen eure nenne.

Gebt, daß ich des Verdiensts genieße,

Den ihr erwerbt, ihr heilgen Füße.


Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 104-106.
Lizenz:
Kategorien: