Die Psyche dürstet nach dem Wasser des Herzens Jesu

[116] 1

Wie ein Hirsch zur dürren Zeit

Nach dem frischen Wasser schreit,

Also schreiet auch mit Schmerzen

Nach dem Wasser deines Herzen,

Jesu, meine matte Seel

In der dürren Leibeshöhl.


2

Ach, wer gibet mir zur Stund,

Daß ich meiner Seelen Mund

An dein offne Brust ansetze

Und mich da erquick und letze!

Ach, wer führet mich zu dir,

Oder aber dich zu mir!


3

Ach, wie süß ist dein Geschmack,

Wohl dem, der ihn kosten mag!

Ach wie lauter, rein und helle

Ist dein Ausfluß, deine Quelle!

Ach wie voller Trost und Lust

Spritzet deine milde Brust.


4

Dein Geruch ist über Wein,

Macht die Engel trunken sein.

Er erfreuet die Betrübten,

Er vergnüget die Verliebten,

Ja, du gleichst dich einem Strom,

Wäschst die Herzen rein und fromm.
[117]

5

Ei, so fließ doch schleuniglich

In mein Herz und tränke mich!

Fließ herein, auf daß ich trinke

Und mit dir in Gott versinke,

Da ich bis in Ewigkeit

Schmecke deine Süßigkeit.


Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 116-118.
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