Gunnar auf Hlidarende.

[20] Auf dem Südlande von Island gegen Osten finden sich mehrere Berge oder Hochebenen von größerem oder geringerem Umfang, welche so hoch emporragen, daß sie stets von Schnee und Eis bedeckt sind. Von dort fließen zahlreiche Bäche herab, welche sich gegen Westen oder Südwesten wenden. Der südlichste derselben heißt im Binnenlande Markarfluß und fließt anfangs in westlicher Richtung, dann aber theilt er sich, und ein Arm desselben läuft südwärts und behält den alten Namen, der andere Arm aber wird die Querau genannt, welche ihren Lauf gen Westen fortsetzt und auf ihrem Wege die von Norden kommenden beiden Rangauen aufnimmt. Zwischen dem Markarfluß und der Querau einerseits und der Ostrangau andrerseits springt ein Hochland vor, auf dessen Abhängen gegen die Gewässer hin fruchtbares Ackerland sich findet. Da nun ein solcher Bergabhang in der altnordischen Zunge »Hlid« genannt wurde, wie heut zu Tage in Norwegen noch »Li«, so hieß der ganze Strich »Fljotshlid« oder »der Bergabhang am Flusse.« Auf dem südlichen Theile des Abhangs oberhalb der Querau, nicht weit von der Stelle, wo sie sich vom Markarfluß abzweigt, lag ein[20] Hof, welcher Hlidarende (Ende des Berghangs) genannt wurde. Dort wohnte ein Mann mit Namen Gunnar Hamundsohn, der in dieser Erzählung vielfach erwähnt werden wird. Er war von hohem Wuchs, stark und tüchtig im Waffenhandwerk wie kein anderer, sowohl im Schwert- wie im Speerkampf, besonders aber im Gebrauch des Bogens, denn er verfehlte niemals das erwählte Ziel. Außerdem zeichnete er sich vor allen in Leibesübungen aus, er schwamm wie ein Seehund, kurz in keiner Art von Uebungen, welche dem Manne geziemten, konnte sich jemand mit ihm zu messen wagen und keinen sah man als ihm ebenbürtig an. Er hatte ein freundliches und angenehmes Aeußere war blond, hatte helle blaue Augen und eine gerade, etwas aufgeworfene Nase, und sein Haar fiel schwer und voll über die Schultern und hatte eine schöne Farbe. Auch war er von seinen und einnehmenden Sitten, schnell zur That, mildthätig, sanftmüthig und von ruhiger Sinnesart, treu gegen seine Freunde, aber eigen in ihrer Wahl. Dazu war er an Gütern reich gesegnet. Seine Mutter Ranvejg war eine Brudertochter von Mörd Gige, so daß Unne Mördstochter seine Base war. An ihn wandte sich diese denn auch, als sie der Hilfe bedurfte. Denn kurze Zeit, nachdem Mörd seine Sache gegen Rut verloren hatte, wurde er krank und starb. Seine Tochter Unne war noch nicht wieder verheiratet und die einzige Erbin ihres Vaters. Sie aber war verschwenderisch und nicht umsichtig in der Verwaltung ihres Gutes, und das baare Geld schwand ihr unter den Händen dahin, so daß sie endlich nichts besaß, als ihr Land und das Vieh. Daher machte sie sich auf den Weg zu ihrem Vetter Gunnar auf Hlidarende. Dieser empfing sie freundlich und sie blieb dort über Nacht. Am folgenden Tage saßen sie vor dem Hause im ernsten Gespräch und Unne klagte ihm ihre Noth, daß sie des Geldes sehr bedürftig sei. »Ich will Dir von meinem Zinsen lassen, so viel Du brauchst,« sagte er. »Von Deinem Gelde will ich nicht zehren,« erwiderte sie. »Wie willst Du es denn gehalten haben?« fragte er. Sie entgegnete: »Ich will, daß du Rut wegen meines Gutes belangst.« »Es sind keine Aussichten vorhanden, daß ich Erfolg haben[21] werde,« sprach er, »da Dein Vater die Forderung nicht durchsetzen konnte, wiewohl er ein gesetzeskundiger Mann war; ich aber kenne nur wenig vom Gesetz.« Denn in Bezug auf die Rechtspflege hatte Island die Eigenthümlichkeit, daß das Gesetz eine Menge von Bestimmungen darüber enthielt, wie man bei der Anhängigmachung und der Durchführung einer Sache auf dem Ting vorzugehen habe. Derjenige, welcher auch nur von einer dieser Bestimmungen abwich, gab sich dadurch seinem Gegner gegenüber sofort eine Blöße, so daß er seine Sache verlor. Nun aber war es ein schwieriges Ding, alle Bestimmungen des Gesetzes für jede Art von Klagen zu kennen, zumal da die Isländer noch nicht das ganze Gesetz gesammelt und niedergeschrieben hatten, wie es später in dem Gesetzbuch geschah, welches »Graagaasen« (die graue Gans) hieß. Auf Gunnar's Einwendung antwortete Unne: »Mehr durch Gewalt und Trotz, als durch Gesetz und Recht gewann Rut die Sache, und ich habe keinen Vetter, der die Sache übernehmen mag, falls Dir dazu der Muth fehlt.« »Nicht der Muth mangelt mir,« sprach Gunnar, »aber ich weiß nicht, wie ich es anzufangen habe.« »Dann fahre Du zu Nial auf Bergthorshvol und rede mit ihm,« versetzte sie, »er wird Dir guten Rath geben können, zumal er Dein Freund ist.« »Allerdings,« erwiderte Gunnar, »er pflegt mir guten Rath zu geben wie auch jedem anderen.« So übernahm Gunnar denn schließlich ihre Sache und gab ihr Geld für den Haushalt und die Wirthschaft, soviel sie bedurfte, worauf sie heimkehrte.

Quelle:
Die Njalssaga. Leipzig 1878, S. 20-22.
Lizenz:
Kategorien: