CCVI.

[258] 1. Ich nam mir ein megdlein von achtzig jaren,

mit rinnenden augen und grawen haaren,

mit grindigen henden,

mit reudigen lenden,

ist allzeit kranck,

ligt bey dem fewr stets auff der banck.


2. An jrem leib ist nichts denn falten,

sie wil mir bey dem fewr erkalten,

jr zän thuts in dem beutel tragen,

kann teglich nichts denn kneiffen und nagen,

jhr maul stinckt jr, nach aller begier,

mir schwindelt vor jr,

herr hilff mir von jr.


3. Ir mund ist blaw und also dürr,

weder lust noch lieb trag ich zu jr,

wenn ich gedenck an das alte weib,

vor jhr erschrickt mir das hertz im leib,

jhr augen seind rot,

vergeb jhrs gott,

das sie mich also betrogen hat.


4. Da ich nam das alte riffeleisen,

thet sie mir viel roter gülden weisen,

die machten mir zu derselbigen stund

dem alten weib ein roten mund,

der wein und auch die finster nacht

hat mich darzu gebracht,

ich hett mich sunst anders bedacht.


5. Sie hat ein peltz ist voller flecken,

darin thut der alte unlust stecken,

darin sie fischt mit gantzem fleis,

wenn sie sol sehen nach der speis,

hat sie den schnuppen, den hals voll schuppen,

daran thuts kluppen,

der teuffel fresse jre suppen.[259]


6. Den alten flochbeutel nam ich fürwar

nit lenger denn auf ein halbes jar,

jetzt mus mein junger gerader leib

erwermen das alte kalte weib,

wird ich gewar, lebt sie viel jahr,

sie bringt mich in gefahr,

o leg sie schon auff der bahr.


7. Ich wolt mich hertzlich gern erwegen,

und wenn ich nur ins grab sehe legen,

wolt urlaub haben von jhrem leib,

ach herr las sterben das alte weib,

darumb ich dir danck

mein lebenlang

mit lobgesang und lautenklang.


8. Ach Gott ein creutz und weib hast geben mir,

o herr nim die alte mutter zu dir,

und bescher mir doch ein junges weib,

die mir erfrewt meinen leib,

nimb die alte zu dir, die junge gib mir,

ist mein begier,

nit besser kanstu helffen mir.


9. Kompt sie in himmel so wil ich nit nein,

von jr mus ich gepeiniget sein,

o herr nim das creutz von mir,

und nimb das alte weib zu dir,

gib jr die hitze, das sie wol schwitze,

denn wo sie hin kompt da ist sie nit nütze.


10. Also hat dieses lied ein endt,

das sey den jungen gesellen geschenkt,

das sie daran ein spiegel haben,

nach gut und geldt nicht allzeit fragen,

gut und geldt bleibt in der welt

ein gute ehe Gott besser gefelt.


Quelle:
[Anonym]: Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582. Stuttgart 1845, S. 258-260.
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