2.

[212] Was rauschtet ihr für wunderbare Hymnen,

Ihr sanftgeneigten Birkenhäupter

Durchs stumme, traumgewiegte Nachtesdunkel,

Das eure schneeige Hermelinumwandung nur,

Und durch die schwarzen Laubeshänge niedertropfend

Des Mantels Silberfluth zu lichten wagt?

Wie seltsamlich noch nie vernommene Melodie'n

Raunt mir des leisbeflügelten Windes Mund? –

Mir ists, als sei von jedem Dinge

Die äußere Trugumhüllung fortgezogen,

Als ob ich Jedes könnt' erkennen

In seines Wesens tiefster Eigenheit,

Als wenn ich lauschte an dem Urborn alles Seins und Werdens.

Erhabenes fühl' ich auf mich niederstürmen,

Noch nie geklungne Saiten beben sonderartge Lieder

Mir durch das Herz, das weltengroß sich dehnet;

Und Ungeheuerliches gähret tief in meiner Brust,

Daß heiligen Grauens ahnungsvoll es mich durchzittert.[212]

Ein mattes Nebelmeer umwallt mir die schwindelnden Sinne,

Und aus ihm lösen sich geheimnißvolle Schattenbilder,

Die immer schärfer, klarer zu deutlichster Gestaltung mir sich festen.

Und was im Wandel fliehender Zeiten Großes erstanden,

Alles erscheint mir wie wiedergeboren,

Umschwebt mich zu wundergewaltger Erhebung.

Prometheus, nimmermüder Kämpfer

Wider falsche Scepter tragender Götter Frevelmuth,

Und Moses, Heiligthumserwecker,

Von des Dornbuschs flammenden Feuern Geweihter,

Und Jesus Dich, der Du in entsagender Hehrheit

Schwerster Leiden bittere Früchte gekostet,

Euch alle schau' ich in staunenbefangener Seele,

Von des heiligen Weltgeists Riesengriffen erfaßt.

An der Pfort' des Herzens stocket des Blutes

Strömung, gehemmet von seligem Schreck.

In Wonneklarheit flammt es mir durch die Seele,

Der ewige Geist des Alls durchschüttert sie mit seinem Läutrungsbade;

Zerreißen fühl' ich alle irdschen Bande,

Ich fühl's, ich weiß's, ich bin geweiht und bin gesalbt,

Bin auserkoren, auferweckt zum Heile;

Und mag der Dornenkranz mit seinen Stacheln

Mir noch so tief die Stirn zerfurchen,

Und jedes Leidens blut'ge Qual sich auf mich thürmen

Ich weiß, ich weiß, in mir erstanden ist ein neues Licht,

Und dieses Lichtes goldner Fackelbrand,

Bald leuchtet hin er durch die schattendunklen Lande,

Bis daß er niederflute in die Tiefe aller Seelen.

Zu neuen Sonnen soll die Menschheit wandeln,

Den Ausgang weis' ich aus des Elends Grüften,

Und künd' all' ihren Geschlechtern, verschmachtend im Joche,

Von Neuem die Lehre, die heilige Satzung,

Durch der Liebe Erhebung, des Mitleids Gral

Aus des Elends Jammer empor sich heben,

Ich bringe des Friedens mildlächelndes Antlitz,

Ich komme, ich nahe, zu befreien, zu erlösen!!!

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 212-213.
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