Was gestern noch geblühet ...

[100] Was gestern noch geblühet,

Ist heute schon verdorrt,


Und was du jüngst mir zugeraunt,

Verklungen ist das Wort!

Verrauscht ist sie, die Stunde,

Wo dich mein Arm umfing –

Wo lustberauscht mein Flammenblick

An deinem Antlitz hing!
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Der Herbstwind fegt die Blätter,

Die letzten, von dem Ast –

Ich wand're durch das öde Land

Bald hier, bald da zu Gast ...

Die Stirne glüht in Fieber –

In Fieber bebt die Hand,

Und wirre Wahnsinnsphantasie'n

Sind mir im Hirn entbrannt ...


Daß ich dich lassen mußte,

Das ficht mich gar nicht an –

Das ist nun einmal Menschenloos

Das sei nun abgethan!

Eins aber zieht mich nieder,

Das lastet wie ein Fluch,

Das lähmt der Seele stolze Kraft,

Der Hochgedanken Flug;


Das gräbt sich in die Stirne

Mit tausend Furchen ein;

Das dunkelt mir der Sonne Gold,

Das dunkelt Sternenschein;

Das wühlt sich in die Brust mir

Wie eines Schächers Blick;

Das hemmt des Athems Freiheitsdrang

Wie eines Henkers Strick!


Das grinst mich an wie eine

Verrenkte Bettlerfaust;

Das loht in mir wie Höllenqual,

Die Herz und Hirn durchbraust –

Und fragt ihr: was entfesselt

Den wirren Qualenstrom?

Die Sehnsucht, die da lechzt nach Glück,

Nach Glück, das nur – Phantom!

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 100-101.
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