2.

[120] Und wieder sah ich Opferdüfte wallen,

Den Weihrauch hoch gen Himmel zieh'n

In duft'gen Wolken.

– Es naht ein Zug –

Vermummte Gestalten –

Teufelsfratzen grinsen mich an –

– »Gott der Liebe, Gott der Liebe!

Te deum laudamus! –«

– Und einen Scheiterhaufen sah ich hoch gerichtet,

Ein Kreuz darauf –

Und Flammen sah ich gierig lecken

Von unten hoch,

Und oben an dem Kreuze stand

Eine weiße Gestalt,

Und in das Gewand,

Da hatten sie eingewirkt

Rothe Zeichen –

Es war ein Weib,

An dem weißen Kleide

Troff es wie Blut –

Das waren blutige Male

Der Taufe –

Ihr tauft mit Blut,

Ihr treuen Jünger eures Herrn? –

»Te deum laudamus.«

Wie schön das Weib ist,

Wie ihrer Glieder duft'ge Weichheit[120]

Hervordrängt aus den festen Stricken,

Mit denen sie an's Kreuz geschnürt.

Die dunklen Augen blicken

Zum reinen, wolkenlosen Himmel,

Und Gottes gnädige Sonne

Ihr in dem weichen Gelock,

Das auf die weißen Schultern niederwallt,

Goldene Strahlen spinnt.

– Die Flammen prasseln

Und züngeln roth sich höher –

Da bohrt sich ihr Blick

Mir in das Herz,

Thränenlos – seelenlos –

Dunkel wie Nacht –

Als ob sie nicht empfände. –

»Gott der Liebe, Gott der Liebe!

Te deum laudamus!« –

Der weite Platz ist dicht gedrängt

Vom Volk, das liebt ja Schaugepränge –

Was bist du Mensch für ein Gewürm,

Daß du die reinste Gabe,

Die dir je geboten,

Besudelst.

Gibt man dir den Himmel,

Gibt man dir das Glück –

Du zerrst es nieder

In deiner Laster Unverstand;

So wie ein Thier, das nichts genießt,

Was nicht mit eig'nem Safte erst zersetzt. – –

»Gott der Liebe, Gott der Liebe!

Te deum laudamus!«

Und lauter wird der heilige Gesang

Und dichter wirbelten die Weihrauchwolken

Und höher rannte die Flamme

Blutroth –

Ein letzter Blick –

Opfersang – Weihrauchduft –

»Gott der Liebe, Gott der Liebe!

Te deum laudamus!« –

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 120-121.
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