Dem Gott der Schönheit

[124] Wenn über die schneeige Firne

Von Bergeshäuptern, steinalten Riesen

Purpurn aufflammt das Frühroth –

Wenn nächtlicher Weile

Erglühen die Leuchten, die nimmer zu zählen,

Des unermeßlichen ewigen Weltalls –

Wenn durch das Waldthal gehen die Schauer

Des kommenden Morgens, des scheidenden Abends –

Dann bebt mir die Seele, ich spüre und fühle

Dich, o erhabener Gott der Schönheit.


Auf Tönen schwimmst du,

Harmonie deine Rede,

Und aus den Gestalten des Malers,

Den Gebilden des Bildners

Siehst du mit großen,

Blitzenden Götteraugen

Tief in das Herz mir.

Dann wieder rührst du die Seele

Und trägst mich empor,

Hinauf zu den Sternen

Auf Schwingen des Liedes ...


Dann wieder schaust du

Aus schlankem Leibe

Mit rosigen Wangen

Und ringelnden Locken[124]

Mich an, süßschimmernden Auges,

Und triffst mich mit deinem

Zuckenden Lichtstrahl,

O Gott der Schönheit.


Wie mir so bewegst du

Das Herz aller Menschen

Seit dem Uranfang,

Jetzt und in Zukunft,

Und weckest die Sehnsucht

Zum Idealen,

Und führest die Menschheit

Den Pfad zur Vollendung ...

O Gott der Schönheit.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 124-125.
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