An die oberen Zehntausend

[168] O kehrtet einmal Ihr aus den Palästen

Im dunstigen Dunkel enger Gassen ein!

O kehrtet einmal Ihr von Euren Festen

In's vierte Stockwerk, wo beim Oellichtschein

Blutarme Nähterinnen um den Bissen

Des lieben Brods zehn Stunden nähen müssen!


Kröcht' einmal Ihr mit Eurem Schmuck behangen

Zur Kellerwohnung, wo der Schuster flickt,

Sein armes Weib mit hungerbleichen Wangen

Den Säugling an die welken Brüste drückt,

Von Einer Mark oft sieben Menschen leben,

Die doch dem Kaiser noch den Groschen geben!
[168]

Es würd' Euch grausen, und in Eure Stirnen

Käm' flammengleich das Krösusblut gerollt,

Und durch den Puder Eurer feilen Dirnen

Bräch' sich die Schamgluth um das Sündengold,

Und wie, wenn Eise sich mit Feuern mischen,

Würd' Euch das Herz in frost'gen Schaudern zischen.


Ihr müßtet zittern, dächtet Ihr im Düster

Des Vorstadtelends an der Schlösser Pracht,

An Baldachin und Purpurbett und Lüster,

An Wein und Sillery und Wonnenacht

Und tausendfach müßt' Euch von allen Mauern

Vernichtung flammengrell entgegenschauern ...

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 168-169.
Lizenz:
Kategorien: