Fortsetzung der Geschichte
der philosophischen Therese

[139] Als Frau Bois-Laurier geendet hatte, versicherte ich ihr, sie könne sich auf meine Verschwiegenheit verlassen, und dankte ihr herzlich, daß sie zu meinen Gunsten die natürliche Abneigung überwunden habe, einem anderen Menschen die Verirrungen ihrer Vergangenheit anzuvertrauen.

Es war inzwischen fast Mittag geworden. Die Bois-Laurier und ich waren noch in diesem Austausch höflicher Redensarten begriffen, als die Kammerfrau mir meldete, daß Sie mich zu sehen wünschten. Mein Herz erbebte vor Freude; ich stand auf und eilte zu Ihnen; wir speisten miteinander zu Mittag Und waren fast den ganzen übrigen Tag beisammen.

Drei Wochen verflossen sozusagen, ohne daß wir uns verließen. Ich merkte gar nicht, daß Sie die Zeit dazu benützten, um sich zu überzeugen, ob ich Ihrer würdig sei. Meine Seele war berauscht, von der Freude, Sie zu sehen, und hatte für kein anderes Gefühl Raum; und obgleich ich keinen anderen Wunsch hatte, als Sie mein Leben lang zu besitzen, so kam es mir doch niemals in den Sinn, einen bestimmten Plan zu verfolgen, um mir dieses Glück zu sichern.

Indessen beunruhigte mich fortwährend die Bescheidenheit Ihrer Reden und Ihr allzu vernünftiges Benehmen mir gegenüber. Wenn er mich liebte, sagte ich zu mir, würde er mich lebhaft umwerben, wie ich es an anderen sehe, die mir versichern, daß sie die heißeste Liebe für mich empfinden.

Dies beunruhigte mich. Ich wußte damals noch[140] nicht, daß vernünftige Menschen auch in ihrer Liebe vernünftig sind und daß die Leichtsinnigen stets und überall leichtsinnig sind.

Nach einem Monat endlich, lieber Graf, sagten Sie mir eines Tages ziemlich lakonisch, meine Lage habe Sie seit dem ersten Tage unserer Bekanntschaft beunruhigt; mein Gesicht, mein Charakter, mein Vertrauen zu Ihnen hätten Sie bestimmt, auf Mittel zu sinnen, um mich von dem Labyrinth fernzuhalten, worin ich mich unfehlbar binnen kurzem verirren müßte. Ohne Zweifel, fuhren Sie fort, erscheine ich Ihnen recht kalt, mein Fräulein, für einen Mann, der Ihnen versichert, daß er Sie liebt. Aber daß ich Sie liebe, ist ganz gewiß, noch größer freilich ist die Leidenschaft, die mich beseelt, Sie glücklich zu machen.

Ich wollte Sie unterbrechen, um Ihnen zu danken, aber Sie ließen mich nicht sprechen und fuhren fort: Dazu ist jetzt keine Zeit, liebes Fräulein, haben Sie die Güte, mich bis zu Ende anzuhören. Ich habe zwölftausend Franken Rente; hiervon kann ich, ohne selber in Verlegenheit zu geraten, Ihnen zweitausend auf Lebenszeit aussetzen. Ich bin Junggeselle und fest entschlossen, mich niemals zu verheiraten. Ich habe beschlossen, die große Welt zu verlassen, deren Narretei mich anzuekeln beginnt, und mich auf ein recht schönes Landgut zurückzuziehen, das ich vierzig Meilen von Paris entfernt besitze. In vier Tagen reise ich ab. Wollen Sie mich als Freundin dorthin begleiten? Vielleicht werden Sie sich später entschließen, als meine Geliebte mit mir zusammen zu leben; dies wird davon abhängen, ob Ihnen ein solches Verhältnis Vergnügen machen wird; Sie können sich darauf verlassen, daß dieser Entschluß nur dann gute Folgen haben wird, wenn Sie innerlich[141] fühlen, daß es zu Ihrem Glück beitragen kann. Es ist ein Unsinn, zu glauben, daß man es in seiner Hand habe, glücklich zu werden, indem man so oder so denke. Es ist nachgewiesen; daß man nicht denken kann, wie man will. Um glücklich zu werden, muß ein jeder sich die Genüsse verschaffen, die seiner Natur und seiner Leidenschaft entsprechen; doch muß er wohl erwägen, welche Vorteile und Nachteile ihm diese Genüsse bringen, und er muß diese Vorteile und Nachteile nicht nur in Hinsicht auf seine eigene Person, sondern auch mit Bezug auf das öffentliche Wohl betrachten. Es steht fest, daß der Mensch, wegen seiner vielseitigen Bedürfnisse, ohne die Beihilfe einer unendlichen Menge anderer Menschen nicht glücklich sein kann; darum muß ein jeder sich hüten, etwas zu tun, was das Glück seines Nachbarn beeinträchtigen könnte. Wer von diesem Wege abweicht, flieht das Glück, das er doch sucht. Hieraus folgt mit Sicherheit, daß die Grundbedingung, um auf dieser Welt glücklich leben zu können, darin besteht, ein rechtschaffener Mensch zu sein und die Gesetze der Menschen zu halten, da durch diese die gegenseitigen Bedürfnisse der Gesellschaft mit einem gemeinsamen Bande umschlungen werden. Männer oder Frauen, die diesen Grundsatz außer acht lassen, können offenbar nicht glücklich sein: Die Strenge der Gesetze, ihre eigenen Gewissensbisse, der Haß und die Verachtung ihrer Mitbürger verfolgen sie.

Überlegen Sie nun, mein Fräulein, alles was ich Ihnen gesagt habe; gehen Sie mit sich zu Rate, und sehen Sie zu, ob Sie glücklich sein können, indem Sie mich glücklich machen. Ich verlasse Sie jetzt; morgen werde ich wiederkommen, um Ihre Antwort zu empfangen.[142]

Ihre Worte hatten mich tief erschüttert. Ich fühlte eine unbeschreibliche Lust in dem Gedanken, einen Mann, der so dachte wie Sie, glücklich machen zu können. Zugleich sah ich die Gefahr, mich in ein Labyrinth zu verirren, und ich sah, daß Ihre Großmut mich davor schützen wollte. Ich liebte Sie; aber wie mächtig, wie schwer zu zerstören sind die Vorurteile. Ich fürchtete mich davor, als eine ausgehaltene Geliebte vor der Welt dazustehen, weil an diesem Stande ein gewisser Makel mir zu haften schien. Ferner hatte ich Angst, ich könnte ein Kind bekommen. Meine Mutter und Frau C. wären beinahe bei der Entbindung gestorben. Außerdem war ich gewöhnt, mir selber eine Wollust zu verschaffen, die, wie man mir gesagt hatte, ebenso köstlich sein sollte wie die Umarmung eines Mannes; hierdurch erstickte ich das Feuer meines Temperaments. Ich hatte niemals sinnliche Wünsche, weil der Begierde stets sofort die Befriedigung folgte. Was mich bestimmen konnte, war also nur die Aussicht auf ein baldiges Elend oder der Wunsch, Sie glücklich zu machen, um dadurch selber glücklich zu werden. Der erste Grund berührte mich kaum, der zweite brachte meinen Entschluß zur Reife.

Mit welcher Ungeduld erwartete ich nun Ihre Rückkehr, sobald ich mich entschlossen hatte! Am nächsten Tage kamen Sie; ich stürzte mich in Ihre Arme. Ja, rief ich, ich bin die Ihre! Schonen Sie die Zärtlichkeit eines Mädchens, das Sie anbetet! Ihre Gefühle geben mir die Sicherheit, daß Sie niemals auf die meinigen einen Zwang ausüben werden. Sie kennen meine Befürchtungen, meine Schwächen, meine Gewohnheiten. Lassen Sie die Zeit und Ihren Rat wirken! Sie kennen das menschliche Herz, Sie kennen die Macht, die das Gefühl auf den Willen[143] ausübt. Benutzen Sie die Gelegenheit, um in mir seine Eigenschaften zu entwickeln, die nach Ihrer Meinung am besten geeignet sind, mich mit voller Hingebung zu Ihren Lebensfreuden beitragen zu lassen. Schon jetzt bin ich von Herzen Ihre Freundin ...

Ich erinnere mich, daß Sie mich in diesem süßen Herzenserguß unterbrachen. Sie versprachen mir, niemals meinem Geschmack und meinen Neigungen widersprechen zu wollen. Alles wurde abgemacht. Am nächsten Tage teilte ich der Bois-Laurier mein Glück mit. Sie nahm unter strömenden Tränen von mir Abschied, und wir reisten endlich an dem von Ihnen festgesetzten Tage nach Ihrem Landgut ab.

An diesem angenehmen Orte angekommen, hatte ich gar keine Zeit, mich über die Veränderung meiner Lage zu verwundern, weil mein Geist keine andere Sorge und keine andere Beschäftigung kannte, als Ihnen zu gefallen.

Zwei Monate verflossen; Sie drängten mich nicht, Ihnen gewisse Freuden zu gewähren, aber Sie suchten in mir selber unermüdlich die Begierde danach zu erwecken. Ich kam allen Ihren Wünschen entgegen, nur den Genuß gewährte ich Ihnen nicht, den Sie mir als besonders entzückend rühmten. Ich konnte mir eben nicht denken, daß er lebhafter sein sollte als die Genüsse, an die ich gewöhnt war und an denen teilzunehmen ich Ihnen anbot. Im Gegenteil, ich schauderte bei dem Anblick des Pfeils, mit dem Sie mich zu durchbohren drohten. Wie wäre es möglich, dachte ich bei mir, daß ein so langes und so dickes Ding mit einem so ungeheuren Kopf in eine Öffnung eindringen könnte, in die ich kaum den Finger stecken kann! Außerdem fühlte ich, daß ich sterben müßte, wenn ich Mutter würde.[144]

Und darum bat ich Sie oft: Lassen Sie uns dieser gefährlichen Klippe ausweichen, mein lieber Freund! Lassen Sie mich machen!

Ich streichelte, ich küßte Ihren Doktor, wie Sie ihn nennen; ich bewegte ihn hin und her, bis ich Ihnen gleichsam wider Ihren Willen jenen göttlichen Saft raubte. Die Wollust übermannte Sie, und Ihre Seele wurde wieder ruhig.

Sobald der Stachel des Fleisches wieder stumpf geworden war, machten Sie sich meine Vorliebe für moralische und metaphysische Betrachtungen zunutze, um mich durch die Macht Ihrer Worte zur Einwilligung in Ihre Wünsche zu bewegen. So sagten Sie mir eines Tages:

Die Eigenliebe bestimmt alle Handlungen unseres Lebens. Unter Eigenliebe verstehe ich jene meiner Befriedigungen, die wir empfinden, wenn wir dieses oder jenes machen. Ich liebe Sie zum Beispiel, weil es mir Vergnügen macht, Sie zu lieben. Was ich für Sie getan habe, ist Ihnen vielleicht sehr angenehm und nützlich, aber Sie schulden mir durchaus keinen Dank dafür, denn nur Eigenliebe hat mich bestimmt; ich finde mein Glück darin, zu dem Ihrigen beizutragen; und aus eben demselben Grunde werden Sie mich nur dann vollkommen glücklich machen, wenn Ihre Eigenliebe ihre besondere Befriedigung dabei findet. Jemand gibt oft den Armen Almosen; er legt sich sogar Unbequemlichkeiten auf, um ihnen beistehen zu können; seine Handlungsweise ist nützlich für das Wohl seiner Gesellschaft, und darum ist sie lobenswert; aber soweit er selber in Betracht kommt, verdient sie durchaus kein Lob. Er hat die Almosen gegeben, weil sein Mitleid für die Unglücklichen schmerzliche Empfindungen in ihm erregte, und es war ihm weniger unangenehm, sein Geld an sie zu[145] verschenken, als noch länger das Schmerzgefühl zu ertragen, welches durch das Mitleid in ihm erregt wurde. Vielleicht schmeichelte ihm auch der eitle Gedanke, für einen mitleidigen Menschen zu gelten, und auch in diesem Falle wäre die innere Befriedigung, die ihn antrieb, nur eine Eigenliebe. Alle Handlungen unseres Lebens werden durch zwei Grundsätze bestimmt: uns mehr oder weniger Genuß zu verschaffen und mehr oder weniger Schmerzen zu vermeiden. –

Andere Male erweiterten Sie die kurzen Belehrungen, die ich vom Abbé T. empfangen hatte. Er hat Ihnen gesagt, wir seien ebensowenig freie Herren, auf diese oder jene Art zu denken, diesen oder jenen Willen zu haben, wie wir freie Herren sind, Fieber zu haben oder nicht. Wir sehen in der Tat durch klare und einfache Beobachtungen, daß die Seele selber nichts vermag, daß sie nur gemäß den Empfindungen und Fähigkeiten des Körpers handelt; daß die Ursachen, die vielleicht eine Unordnung in den Organen vollbringen, die Seele beunruhigen; daß eine Veränderung an einem Blutgefäß, an einer Faser im Gehirn den klügsten Menschen plötzlich blödsinnig machen kann. Wir wissen, daß die Natur stets auf die einfachste Weise verfährt und nach einem stets sich gleichbleibenden Grundsatz; da es nun klar ist, daß wir bei gewissen Handlungen nicht frei sind, so sind wir es in keiner. Außerdem würden alle Seelen gleich sein, wenn sie rein geistig wären. Wenn nun diese untereinander gleichen Seelen die Fähigkeit hätten, selber zu denken und zu wollen, so würden sie in gleichen Fällen alle auf gleiche Weise denken und sich entschließen. Dies ist aber keineswegs der Fall. Ihr Entschluß muß also durch etwas anderes verursacht sein, und dieses Andere kann nur die Materie[146] sein, denn selbst die Allergläubigsten kennen nur Geist und Materie.

Aber fragen wir einmal diese Gläubigen: Was ist der Geist? Kann er existieren und doch an keinem Ort vorhanden sein? Wenn er an einem Ort ist, muß er Raum einnehmen; wenn er Raum einnimmt, hat er Ausdehnung; wenn er Ausdehnung hat, hat er Teile; wenn er Teile hat, ist er Stoff. Also ist der Geist eine, Chimäre oder bildet er einen Teil der Materie?

Aus dieser Überlegung sagten Sie, kann man mit Gewißheit schließen, daß die Art unseres Denkens von der Organisation unseres Körpers und unserer Ideen abhängt. Daher können die geistigen Führer und Denker sich gar nicht genug Mühe geben, um Ideen zu vertreiben, die geeignet sind, in wirksamer Weise zum öffentlichen Wohl und im besonderen zum Wohl der Personen, die sie lieben, beizutragen. Und wie müssen erst Väter und Mütter in dieser Hinsicht auf das Wohl ihrer Kinder, Erzieher und Lehrer auf das ihrer Schüler bedacht sein!

Sie begannen schließlich, mein lieber Graf, meiner ewigen Weigerung müde zu werden, als Sie den Einfall hatten, aus Paris Ihre Sammlung galanter Bücher und galanter Gemälde kommen zu lassen. Da ich an diesen Büchern und noch mehr an den Bildern Gefallen fand, so verfielen Sie auf zwei Mittel und hatten Erfolg damit: Sie lesen also, Fräulein Therese, sagten Sie scherzend zu mir, galante Bücher und Bilder? Das freut mich ungemein. Ich werde Ihnen das Pikanteste verschaffen, was es gibt. Aber treffen wir ein Abkommen, wenn's Ihnen recht ist: Ich bin bereit, Ihnen leihweise auf ein Jahr meine Bücher und Bilder in Ihre Zimmer zu geben, wenn Sie sich verpflichten wollen, vierzehn[147] Tage lang nicht einmal Ihre Hand an jene Stelle zu führen, die von Rechts wegen mein Eigentum sein sollte. Sie müssen mit der »Handarbeit« aufrichtig und vollständig brechen. Nachsicht darf nicht geübt werden; wir beide müssen unseren Pakt getreulich erfüllen. Ich habe meine guten Gründe, dieses Verlangen an Sie zu stellen. Nun wählen Sie! Wollen Sie hierauf nicht eingehen, so gibt es keine Bücher, keine Bilder.

Ich zögerte nicht lange und gelobte Enthaltsamkeit für vierzehn Tage.

Aber dies ist noch nicht alles, fuhren Sie fort. Unsere gegenseitigen Verpflichtungen sollen im Einklang stehen. Es wäre unbillig, wenn Sie um den Anblick dieser Bilder oder um die flüchtige Lektüre der Bücher willen ein solches Opfer brächten. Machen wir eine Wette, die Sie ohne Zweifel gewinnen werden. Ich wette meine Bibliothek und meine Bilder gegen Ihre Jungfernschaft, daß Sie Ihre Enthaltsamkeit nicht vierzehn Tage lang aushalten werden, wie Sie gelobten.

Wirklich, mein Herr, unterbrach ich etwas ärgerlich, Sie haben einen recht eigentümlichen Begriff von meinem Temperament und trauen mir recht wenig Selbstbeherrschung zu.

O bitte, mein Fräulein, keinen Prozeß, riefen Sie. Darin bin ich Ihnen nicht gewachsen! Übrigens fühle ich, daß Sie den Zweck meines Vorschlages gar nicht ahnen. Hören Sie mich an! Ist es nicht wahr, daß bei jedem Geschenk, das ich Ihnen mache, Ihr Selbstgefühl sich verletzt fühlt, weil Sie es von einem Manne empfangen, den Sie nicht so zufrieden machen, wie er es sein könnte? Nun, die Bibliothek und die Bilder, die Sie so sehr lieben, werden Sie nicht zum Erröten bringen, denn diese werden Sie ehrlich gewonnen haben.[148]

Mein lieber Graf, antwortete ich, Sie stellen mir Fallen, aber ich sage Ihnen, Sie werden selber hineingehen! Ich nehme die Wette an! Ja, noch mehr, ich verpflichte mich sogar, alle meine Vormittage nur mit dem Lesen Ihrer Bücher und mit dem Betrachten Ihrer bezaubernden Bilder zu verbringen.

Alles wurde auf Ihren Befehl in mein Zimmer gebracht. Ich verschlang sozusagen mit den Augen in den ersten vier Tagen die Geschichte des Pförtners der Kartäuser, die Geschichte der Karmeliterinnenpförtnerin, die geistlichen Lorbeeren, das Freudenmädchen, den Aretino und viele andere Bücher dieser Art. Von ihnen wandte ich mich nur ab, um die Gemälde zu betrachten, auf denen die wollüstigen Stellungen mit einer Farbenschönheit und Kraft des Ausdruckes wiedergegeben waren, daß meine Adern von heißer Glut durchströmt wurden. Am dritten Tage geriet ich in eine Art von Ekstase, nachdem ich eine Stunde lang gelesen hatte. Ich lag auf meinem Bett, von dem die Vorhänge auf allen Seiten zurückgeschlagen waren, so daß ich freien Ausblick auf zwei Gemälde hatte. Es waren: »Das Fest des Priapus« und die »Liebe des Mars und der Venus«. Von den Stellungen, die darauf abgebildet Waren, wurde meine Phantasie so erhitzt, daß ich alle Bettücher und Decken von mir abwarf. Ohne daran zu denken, ob auch meine Zimmertür gut verschlossen wäre, begann ich alle Stellungen nachzumachen. Jede Gestalt flößte mir das Gefühl ein, das der Maler hineingelegt hatte. Ein Liebespaar auf der linken Seite des Bildes vom Priapusfest entzückte und begeisterte mich wegen der Übereinstimmung des Geschmackes der jungen Frau mit dem meinigen. Mechanisch griff meine Hand nach der Stelle, wo die Hand des Mannes ruhte, und ich war im Begriff, meinen Finger[150] hineinzustecken, als die Überlegung mich zurückhielt. Ich erinnerte mich der Bedingungen unserer Wette, und so mußte ich von meinem Vorhaben ablassen.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß Sie Zeuge meiner Schwäche seien, wenn dieser wonnige Trieb der Natur eine solche genannt werden kann. Aber wie wahnsinnig war ich, große Göttin, daß ich dem unbeschreiblichen Vergnügen eines wirklichen Genusses widerstand! Aber dies sind die Wirkungen des Vorurteils: Es macht uns blind, es ist unser Tyrann. Andere Partien dieses ersten Gemäldes erregten abwechselnd meine Bewunderung und mein Mitleid.

Endlich warf ich meine Augen auf das zweite. Welche Wollust in der Stellung der Venus. Wie sie streckte ich mich bequem aus; die Schenkel ein wenig gespreizt, die Arme wollüstig geöffnet, bewunderte ich die glänzende Haltung des Gottes Mars. Das Feuer, von dem seine Augen und besonders seine Lanze belebt zu sein schienen, drang mir ins Herz. Ich wälzte mich auf dem Bett, meine Hinterbacken bewegten sich wollüstig, wie wenn ich dem Sieger den Kranz reichen wollte.

Wie? rief ich, die Götter selbst schwelgen in einem Glück, das ich verschmähe? Ach, Geliebter, ich widerstehe nicht mehr! Erscheine, Graf, ich fürchte diese Lanze nicht mehr! Du kannst deine Geliebte durchbohren; du magst sogar selber die Stelle wählen, die du treffen willst. Mir ist alles recht; standhaft, ohne einen Laut werde ich deine Stöße aushalten. Und damit dein Triumph sicher sei – da! Mein Finger fährt hinein!

Welche Überraschung! Welch glücklicher Augenblick! Plötzlich erschienen Sie: stolzer, glänzender als selbst Mars auf jenem Gemälde. Ein[151] leichter Schlafrock, der Sie bedeckte, war im Nu ausgezogen.

Ich besaß zu viel Zartgefühl, sagten Sie zu mir, um mir gleich den ersten Vorteil zunutze zu machen, den du mir botest. Ich war an deiner Tür; ich habe alles gesehen, alles gehört; aber ich wollte mein Glück nicht dem Gewinn einer listigen Wette verdanken. Ich erscheine, liebenswürdige Therese, nur deshalb, weil du mich gerufen hast. Bist du entschlossen?

Ja, Geliebter! rief ich. Ich bin ganz dein! Stoß zu! Ich fürchte deine Stöße nicht mehr!

Augenblicklich sankst du in meine Arme, ohne Zögern ergriff ich den Pfeil, der bis dahin mir so furchtbar erschienen war, und führte ihn selber an die Öffnung, die er bedrohte. Sie stießen ihn hinein, und Ihre wiederholten Stöße entrissen mir nicht einen einzigen Schrei. Ich ging völlig in der Wonne auf und dachte nicht an den Schmerz.

Die Philosophie des Mannes, der sich selbst beherrscht, schien vom Sinnestaumel hinweggerissen zu sein, als Sie plötzlich mit halberstickter Stimme zu mir sagten:

Ich werde nicht von meinem vollen Recht Gebrauch machen, Therese! Du fürchtest Mutter zu werden – ich werde dich schonen. Die höchste Wonne naht! Lege wieder die Hand an deinen Besieger, sobald ich ihn herausgezogen habe, und hilf ihm mit ein paar Bewegungen ... Es ist Zeit, mein Mädchen ... Ich sterbe ... vor ... Lust ...

Ah! Auch ich ... sterbe ...! rief ich. Ich fühle ... nichts ... mehr ...

Gleichzeitig hatte ich den Pfeil erfaßt; ich preßte ihn leicht mit meiner Hand, die ihm als Köcher diente. In ihr erreichte er das höchste Ziel der Lust. Dann begannen wir von neuem, und unsere[152] Freuden dauern jetzt schon zehn Jahre, immer in der gleichen Form, ohne Kinder, ohne Unruhe.

Dies, mein lieber Wohltäter, dürfte wohl das sein, was Sie von mir wünschten, als Sie mich baten, mein Leben ausführlich zu schildern. Sollte dieses Manuskript jemals im Druck erscheinen – wie viele Dummköpfe werden gegen die Sinnlichkeit und gegen die metaphysischen und moralischen Grundsätze zetern, die es enthält. Diesen Dummköpfen, diesen schwerfälligen Maschinen, diesen Automaten, die mit den Organen anderer zu denken gewöhnt sind, die dies oder jenes nur darum tun, weil man ihnen sagt, sie müssen es – diesen werde ich antworten, daß alles, was ich geschrieben habe, nur auf Vernunft und auf eine von allen Vorurteilen freie Erfahrung begründet ist.

Ja, ihr Unwissen, das Wort »Natur« ist eine Chimäre! Alles ist Gottes Werk. Er gab uns das Bedürfnis zu essen, zu trinken und alle Freuden zu genießen. Warum sollten wir also erröten, wenn wir doch nur seine Absichten erfüllen? Warum sollten wir nicht ohne Furcht zum Glück der Menschheit beitragen, indem wir mannigfaltige Speisen vorsetzen, die je nach dem verschiedenen Appetit verschieden gewürzt sind? Warum sollte ich befürchten, Gott oder den Menschen zu mißfallen, indem ich Wahrheiten verkünde, die nur aufklären, niemals aber schaden können? Noch einmal wiederhole ich es euch, schwarzgallige Sittenrichter: Wir denken nicht, wie wir wollen. Die Seele hat keinen Willen; sie wird nur durch sinnliche Empfindungen, durch die Materie bestimmt. Die Vernunft klärt uns auf, aber sie bestimmt uns nicht. Eigenliebe, Hoffnung auf Vergnügen oder der Wunsch, ein Mißvergnügen zu vermeiden, sind die Triebfedern aller unserer Entschlüsse. Unser Glück hängt[153] ab von der Beschaffenheit unserer Organe, von der Erziehung, von äußerlichen Einflüssen; und die menschlichen Gesetze sind so beschaffen, daß der Mensch nur glücklich sein kann, wenn er sie beobachtet und ein rechtschaffenes Leben führt.

Es gibt einen Gott. Wir müssen ihn lieben, weil er ein unendlich gutes und vollkommenes Wesen ist. Der vernünftige Mensch, der Philosoph, muß durch gute Sitten zum allgemeinen Wohl beitragen.

Es gibt keinen Gottesdienst. Gott ist sich selber genug; die Kniebeugungsgrimassen und Einbildungen der Menschen können seinen Ruhm nicht vermehren. Moralisch gut und böse ist etwas nur in bezug auf die Menschen, niemals in bezug auf Gott.

Wenn menschliches Leiden dem einen schadet, ist es dafür anderen nützlich: Der Arzt, der Anwalt, der Finanzmann leben vom Leiden des Nächsten. Einer hängt immer vom andern ab. Die Gesetze, die jedes Land hat, um die Gesellschaft durch ein festes Band zusammenzuhalten, müssen beobachtet werden. Wer sie verletzt, muß bestraft werden. Denn wie das gute Beispiel Menschen mit schwachen Anlagen von der Ausführung ihrer bösen Absichten zurückhält, so trägt mit Recht die Bestrafung eines Übeltäters zur allgemeinen Ruhe bei. Fürst und Obrigkeit, die ihre Pflichten erfüllen, müssen geliebt und geachtet werden, weil jeder von ihnen zum Besten der Gesamtheit handelt.

Quelle:
Die philosophische Therese. München 11980, S. 139-154.
Lizenz:

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