Abschiedslied

[295] 1855.


Schon dunkeln meine Lebenstage

Sich tief hinab zum Abendschein,

Und ernster fragt die große Frage:

Was bist du? Sprich: Was wirst du sein?

Wie löst das Rätsel deines Lebens

Sich hinter deinem Grabe auf?

War all dein Streben nicht vergebens?

War eitel Irrlauf nicht dein Lauf?


Jawohl, die letzten Glockenschläge,

Der letzte Strahl des Abendlichts,

Was klingen sie im Busen rege?

Was leuchtet er aus deinem Nichts?

Was melden deiner Augen Tränen?

Was wird im kranken Herzen wach?

O all dein Irren, Träumen, Sehnen,

Des Lebens langes Weh und Ach.


So ist's: Mit Düsternis umhangen

Wie oft war dir die wunde Brust,

Ein Dorn dein Sehnen und Verlangen,

Ein Gift die Süßigkeit der Lust;[295]

Wie mochte sich der Blinde hüten

Auf bunter Täuschung Blumenfeld,

Wie oft die Natter unter Blüten

Den Biß auf ihren Pflücker schnellt?


Doch still! Auch lieblich ist verklungen

Dir mancher schöne Erdentag,

Von Gottes Lieb' und Lust durchsungen,

Die tönt Erinnrung fröhlich nach.

Ja, Gott, ich danke für dein Werde!

Fürs Wonnewort: Es werde Licht!

Für deine schöne, grüne Erde

Und all ihr Sonnenangesicht.


Ja, Dank dir, Herr, für reiche Freude

Auf schwerstem, längstem Pilgergang.

Es macht des Abends Schlafgeläute

Dem müden Wandrer nimmer bang;

Wie oft er auch auf wüstem Pfade

Von deinem Lichte lief verirrt,

Er weiß, daß deine Huld und Gnade

Ihn nimmermehr verlassen wird.


Nein, nimmer! Felsen sind die Worte,

Die Worte dein, Herr Jesus Christ,

Durch welche mir die Himmelspforte

Der Gnade weit geöffnet ist.

Mag dieser Erde Licht verscheinen,

Mag diese Sonne untergehn,

Ich werde selig mit den Deinen

Lobsingend stehn auf höhern Höhn.


Ja, süßer Heiland, mit den Deinen,

Sei auch ich unter Kleinsten klein –

Dein Licht wird ewig auf mir scheinen,

Dein Glanz wird ewig bei mir sein.

Hier gilt kein Zagen und kein Fragen,

Hier gilt: Halt fest, den Glauben fest,

Daß Gott nach diesen dunklen Tagen

Dir hellere Sterne scheinen läßt.

Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 295-296.
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