An Psychidion

[87] 1811.


Psyche Psychidion, mein süßes Seelchen,

Himmlisches Vöglein mit den goldnen Flügeln,

Locket der Lenz dich wieder in die Freude?

Lockt dich die Liebe?
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Locket dich mehr als Lenz und mehr als Liebe,

Wie sie im Staub des Erdentals gehört wird?

Lockt dich die Sehnsucht wieder zu der Heimat

Sel'gen Gespielen?


Hin, wo das Heilige tönt um den, der war, ist,

Sein wird, des Name Liebe klingt und Freude,

Welcher die Seelen ausgoß aus der Urne,

Ausgoß die Sterne?


Laß sie dich locken, laß die Engelflügel

Klingen zum Äther, alter Götterheimat,

Daß du uns unten das von oben deutest,

Himmlische Träume;


Daß du uns lehrst, warum die Demut droben

Lieblingin Gottes, herrscht vor hohen Thronen,

Was in der Unschuld schweigt und was in holder

Scham sich verhüllet.


Aber fliege nicht von uns, süßer Vogel,

Komm zu der Erde grünen Fluren wieder,

Damit auch wir, was auf den Sternen wandelt,

Hoffen und sehnen.


Psyche Psychidion, mein süßes Seelchen,

Himmlisches Vöglein mit den goldnen Flügeln,

Möge liebende Sehnsucht nie dich lassen!

Liebender Wahn nie!

Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 87-88.
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