Die Lerche

[92] 1811.


Als man das achte Jahr zu Achtzehnhundert nach Christi

Unsers Herrn Geburt zählte, zur Zeit, wo der Klang

Geht der Sicheln ins Feld, da lag ich einsamen Schlummers

Fern in dem Lande, wo Jo klinget zugleich mit dem Ja.

Da ward öfters der Fremdling besucht von Träumen von jenseits

Her des Wassers, von dem, was über Land, über Meer

Trägt der Ruf, und von dem, was Liebe innigst im Herzen

Von den Geliebten so süß, süßer vom Vaterland spinnt.

Einst als der Mond mit dem lieblichen Strahl schon bleicher und tiefer

Funkelte, schon ein Stern hinter dem andern erlosch,

Schlug es mit rauschenden Flügeln fast hart ans Fenster und rief mir:

»Mache gleich auf, es ist kalt, auch ist der Falke nicht weit.«

Ich aus dem Bett und öffne das Fenster, da flattert ein Vöglein

Schwirrend mir dicht in den Schoß, zitternd und wimmernd und naß.

Und ich beschaue das Vöglein mir, da ist es die Lerche,

Und ich denke bei mir: Vöglein, wo flatterst du her?

Und es sieht so bedeutend mich an, halb menschlichen Blickes,

Spricht dann:»Kennst du mich nicht? Kennst du den Vater nicht mehr?[92]

Habe mich auch recht lieb und hege mich warm in dem Busen;

Fern ist der Weg, den ich flog, fern, den ich fliegen noch muß.«

Und es fiel mir aufs Herz, es schossen mir schwere Gedanken

Hin durch die Seele, und heiß floß aus den Augen ein Strom.

Wimmerndes Vöglein, du kamst ein Bote der Sehnsucht und Treue:

Also findet der Geist Boten der Liebe dem Geist;

Denn mein Vater verließ die irdische Heimat und grüßte,

Wandelnd die himmlische Fahrt, noch den Entfernten durch dich.

O er war dir ja gleich an fröhlichen Liedern und Freuden,

Liebte das glückliche Land, liebte die Felder wie du.

Heil dir, Herold des Himmels, und Heil dem frommen Geschlechte,

Das in den Furchen sein Nest baut und die Wiesen bewohnt!

Friede soll ewig bestehn den spätesten Enkeln von beiden,

Und es erlahme die Hand meines Geschlechts, die den Tod

Schickt auf die Deinen mit Blei und Schlingen stellet und Netze,

Oder mit diebischer Lust fährt auf die piepende Brut!

Quelle:
Ernst Moritz Arndt: Werke. Teil 1: Gedichte, Berlin u.a. 1912, S. 92-93.
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