Der Scheintod

[313] Mündlich.


Des Jerman Weizers Fraue ward

Mit großer Angst beschweret,

Von wunderbarer Krankheit Art,

Auch sollt sie bald gebähren,

Sie betet: Wär das Kind zur Welt,

Darnach, wenn's Gott dem Herrn gefällt,

Wollt sie auch gerne sterben.


Sie starb zu ihrer Kinder Leid,

Ward in ein Grab getragen,

Die Kinder gingen lange Zeit

Vielmal an allen Tagen,

Wohl auf den Kirchhof zu dem Grab,

Sie weinten sich die Aeuglig ab,

Im Hause still zu bleiben.


Als nun die Frau neun Tage lang,

Im Grabe hat gelegen,

Die Kinder nahmen ihren Gang,

Zum Kirchhof thäten gehen,

Da hörten sie ein lieblich Stimm

Auf ihrer Mutter Grab, vernimm,

Ein Kinder-Liedlein singen.


Nun schlaf mein liebes Kindelein,

Sangs mit der Mutter Tone,

Die Kinder liefen freudig heim,

Mit einer Blumenkrone:[313]

»O Vater, lieber Vater mein!

Geh mit uns auf den Kirchhof ein,

Die Mutter singet schöne.


Sie wiegt im Grab ein Kindelein,

Darum wir Blumen tragen.«

»Ihr lieben Kinder bleibt daheim,

Eur Mutter schläft ohn Klagen.«

Die Kinder ließen keine Ruh,

Der Vater ging dem Grabe zu,

Thät auch die Stimme hören.


Ein überlieblich reine Stimm,

Er hört an diesem Orte,

Mit Wunderkraft, mit frohen Grimm

Er reisset auf die Pforte,

Er hebet auf den schweren Stein,

Den eichnen Sarg er schlaget ein,

Dann stürzt er betend nieder.


Es lag die schöne Fraue da,

Das Kind an ihrer Seite,

Die andern Kinder treten nah,

Sie thät die Arme breiten:

»Herzlieber Mann, dein Kind nimm an,«

Er sah es voller Freuden an,

»Und laß dich nicht entsetzen.«


Das Kindlein lacht den Vater an,

Sie gingen all nach Hause,

Ein Bad man thät anrichten dann,

Man ladet viel zum Schmause.

Gelehrte kamen auch heran,[314]

Zu schauen das Mirakel an,

Zu hören ohne Grausen.


Da nahm sie einen Becher Wein,

Dann grüßte sie die Freunde,

Und sprach: »O Tod, du böser Schein!

Ich schien wohl todt, ihr weintet,

Ich wachte auf, und war allein,

Ich lag im engen Kämmerlein,

Ein Kind hatt ich geboren.«


Sie sprach und dankt Gott so rein:

»Dreymal in einem Tage,

Bracht mir ein kleines Knäbelein,

Die Speis zum Glockenschlage,

Daß ich mein Söhnlein nähren konnt,«

Und sprach: »Neun Tage wart zur Stund,

Du gehest aus dem Grabe:


Doch länger nicht als noch drey Jahr,

Wirst du noch bleiben leben,

Du sollst es zeigen an fürwahr,

Den Bösen allen die leben;

Sie sollen sich bekehren all,

Von Fluchen, Lästern allzumal,

Der jüngste Tag ist nahe.«[315]


Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 1, Stuttgart u.a. 1979, S. 313-316.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Des Knaben Wunderhorn
Ludwig Achim's von Arnim sämtliche Werke: Band XVII. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Band 3
Sämmtliche Werke, Neue Ausgabe. Herausgegeben von Bettina von Arnim und Wilhelm Grimm. Band 06: Des Knaben Wunderhorn I und II. - Reprint der Ausgabe von 1857
Des Knaben Wunderhorn Band 2
Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L.A.v. Arnim und Cl. Brentano. Neu bearbeitet von Anton Birlinger und Wilhelm Crecelius; ... in Holz geschnitten von C.G. Specht: Band. 1
Ludwig Achim's Von Arnim Sämmtliche Werke: Des Knaben Wunderhorn. T. 3 (German Edition)

Buchempfehlung

Anonym

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Die vorliegende Übersetzung gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert wieder, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammlungen ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon