Neuntes Kapitel

Der alte Graf P ... wird Minister. Tod des Fürsten. Regierung der Fürstin

[379] Wir wollen den alten Grafen von jetzt, wo er bald mit dem Grafen Karl in eine nähere Berührung kommt, durch seinen Dienst und Ehrentitel als Minister unterscheiden; er hatte die Stelle eines ersten Ministers nach vielen dringenden Bitten des Fürsten angenommen; Leichtsinn hinderte ihn nicht mehr in dem ordentlichen Gebrauche[379] seines hohen Talents für das Geschäftsleben; er widmete sich ihm ganz. Nur ein Jahr dauerte dieses schöne Zusammenleben und Zusammenwirken des Fürsten mit dem Grafen, da wurde jener durch einen unerwarteten Schlagfluß hinweggerafft, und die Fürstin übernahm die Verwaltung ihres Landes im Namen ihres blödsinnigen Sohnes, der in gemeiner Ausschweifung Frankreich durchschwärmte. Der Minister beschloß erst sich ganz zurückzuziehen; er bezog ein angenehmes Nebenhaus bei seinem verbrannten Palaste, und erwartete nicht, daß ihn die Fürstin rufen würde. Aber kaum hatte sie die Feierlichkeiten ihres Einzugs überstanden, und die Auseinandersetzung seiner Geschäftsführung durchlesen, als sie mit dem ihr eigenen Scharfsinne sein großes Talent so ganz erkannte, daß sie sich zu der Aufopferung aller Empfindlichkeiten entschloß, und so dringend ihn zu sich forderte, daß er ihrer Einladung nicht widerstehen konnte. Er war sehr überrascht, sie so durchaus in ihrer ganzen Schönheit erhalten zu finden, als wäre diese Zeit nur ein schlimmer Tag der vor vierzehn Jahren verlebten; sie wußte ihre alte Vertraulichkeit so ganz herzustellen, daß er alle Geschäfte gern übernahm, und mit Hülfe ihres Geistes zu noch größerer allgemeiner Zufriedenheit fortführen konnte. Er hätte sich von neuem in sie verliebt, aber sie mied diese Berührung; auch genügte es ihm bald nach den Geschäften dem Hofe ganz zu leben. Wirklich war auch ein liebenswürdigerer Hof kaum denkbar. Die Fürstin hatte in der langen Entfernung von ihrem Lande, durch ihren in Künsten gebildetern Sinn Leben und Freude kennen gelernt; sie unterschied jetzt mit Sicherheit den Kreis ihres eigenen Lebens von dem öffentlichen, den ihr ein großes Schicksal anvertraut hatte, und so störten beide einander niemals. Nie erschien eine Fürstin, wo sie in einem öffentlichen Geschäfte begriffen, mit mehr Ansehen und Glanz; sie zog es vor, manches, was sonst nur unter wenigen Augen verhandelt wird, der Menge darzustellen; die Bestallung zu Ämtern, der letzte Vortrag und die Beratung über neue Einrichtungen, die Belohnung öffentlicher Verdienste mit Ehrenzeichen waren neue Feierlichkeiten, an denen sich die Erwachsenen freuten, und welche die Kinder begeisterten; ihr Kunstsinn wußte durch Anordnung mit unendlich geringem Kostenaufwande die größten Wirkungen hervorzubringen. – Wer etwas Rechtes will, kann mit wenigem unendlich viel leisten; die[380] ausgezeichneten Männer dienten ihr mehr für Ehre als für Lohn, und mehr für die Annehmlichkeit ihres täglichen Umgangs als für die Ehre. In den Gedanken der entfernten Menge, schwebte ein Bild von der Glückseligkeit des Hoflebens, das leider so selten in der Nähe gefunden wird, das aber doch wohl verdiente einmal wieder dargestellt zu werden, wie es in der Ritterzeit wirklich vorhanden war, und dem sich der Hof der Fürstin wenigstens näherte. Allem Glanze, aller Etikette wurde in der eigentlichen öffentlichen Angelegenheit genügt; das Vergnügen des Hofes und seine Geselligkeit aber keinesweges dazu gerechnet; waren die Stände dort streng nach hergebrachten erworbenen Rechten und Ehren unterschieden, hier galt nur das gesellige Talent, und das Verhältnis zur Gesellschaft durch Freundschaft und Wohlwollen; hier war die Fürstin ganz menschlich, ganz eigentümlich sich selbst überlassen, ihrer individuellen Neigung und Gunst. Doch fiel es keinem bei ihr ein, Begünstigungen des geselligen Umgangs auf öffentliche Verhältnisse zu übertragen; wie wäre es möglich gewesen, die heitre schöne Fürstin, zu der jeder in seinem täglichen Kleide, in Stiefeln, ohne Umstände, Abends den Eintritt begehren durfte, mit jener ernsten glänzenden Fürstin zu verwechseln, wie sie in Geschäften erschien, wo jedes Wort bedacht, jede Annäherung abgemessen, jede Amtskleidung bestimmt war, wo jeder Eintretende von dem Oberhofmeister seine Bestimmung erhielt. Fremd war diese Einrichtung allerdings in der Gegend; die alten Frauen verwunderten sich ungemein, ihre Fürstin mit Unadligen tanzen zu sehen. Auf ihre Vorstellungen, antwortete die Fürstin: »Wenn ich tanze, muß ich doch Krone und Zepter ablegen, es würde sonst sehr lächerlich lassen; ich tanze mit dem am liebsten, der am besten tanzt; sollte es nach dem Range gehen, so müßte ich meinen alten General ins Grab, oder den Minister auf eine Woche zu allen Geschäften unbrauchbar tanzen.« – Die Annehmlichkeit des Hofes, die stete Erneuerung, die wechselnde Bekanntschaft und Aufmunterung von manchem Herrlichen, was in den geselligen Kreis eintrat, und dem öffentlichen Verkehr verbunden nutzte, vernichtete bald den ersten Widerspruch. Eine Reise an diesen Hof war für die umliegenden kleinen Höfe die höchste Belustigung; manche mieteten in der kleinen Residenzstadt Häuser, und bauten sich an; ein künstliches Bad, das dort angelegt war, mußte zum Vorwande[381] dieser Reisen dienen; ein lebendiges Schauspiel, nicht bloß von Besoldeten, sondern auch von Liebhabern getrieben, zog andere Fremde herbei; in kurzer Zeit waren die Verheerungen des Krieges ganz vergessen, das ganze Städtchen wohlhabender als je, Zweige der eignen Industrie schnell entwickelt, die sonst viele Jahre vergeblich aufgemuntert worden; ja es zeigte sich bald ein eigentümlich heitrer mitteilender Geist unter allen Bewohnern, eine reiche allgemeinere Sprache durch alle Klassen, ein freies schöneres Ansehen, das sie von allen Nachbaren unterschied. Die älteren Leute fanden sich von dem Drange zum Bessern ohne ihr Wissen und Wollen selbst verwandelt, kamen dann wohl selbst zur Fürstin, und fragten sie, wie es möglich gewesen, daß sie und der ganze Hof sich sonst an langen Mittagsmahlzeiten an verschiedenen Tafeln gequält, sich mit dem Minister über sein großes Haus entzweit, mit der alten fürstlichen Tante wegen eines zu späten Eintreffens bei der Cour erzürnt hätten. – Die Fürstin mußte dann über sich selbst lachen; sie konnte sich selbst nicht begreifen, und bat den Minister scherzend, er möchte sich doch jetzt wieder ein recht schönes Haus bauen, es würde ihr keinen Ärger mehr machen. – Wie glücklich könnten kleinere Staaten sein, wenn es keine größeren gäbe!

Doch traten jetzt über Europa größere Staatsbewegungen ein, die eben so die vieljährigen Bemühungen kleinerer Fürsten durch eine bloß zufällige Zwischenwendung verstörten, wie die Haushaltungen einzelner Menschen. Die Fürstin fühlte sich in diesen Wirkungen und Gegenwirkungen der Zeit zu schwach, ihrem Völkchen bei den eindringenden kolossalen Massen eine feste Richtung zu geben, eben so unwürdig schien es aber ihrer festen Natur, sich und die Ihren jeder neuen übermächtigen Willkür hinzugeben, sie meinte den Geschäften entsagen zu müssen, die sie nicht mehr mit Lust und Überzeugung verwalten konnte. Der Minister mußte aus Freundschaft zu ihr, alle Geschäfte allein übernehmen, nur in ganz bedeutenden Fällen wollte sie zugezogen sein. In dieser teilnehmenden Ruhe gewann der Gram über manche vereitelte wohltätige Absicht solchen Einfluß auf ihren unter Geschäften sonst unveränderlichen Geist, daß alle ihre Umgebungen in der Sorge für ihr Leben, jede andre vergaßen, und sich beeiferten durch allerlei sinnreiche Erfindungen ihrer Laune Abwechselung zu verschaffen. Aber bald sind diese Mittel erschöpft, wo der Leidende[382] nicht selbst daran mitarbeitet; die Fürstin suchte in allem Nahrung ihrer Trauer; die schauerlichsten Lieder waren die einzigen, die sie anhören mochte, und sie selbst, die sonst nur Scherze zu den Maskenspielen des Hofes auszudenken gewohnt war, vertiefte sich jetzt in allerlei Dichtungen, denen die meisten, welche nicht ihre Art und die Beziehung näher kannten, heimlich den Titel der Unsinnigkeit beilegten, die um so gefährlicher sei, da sie ansteckend wäre, und schon in der Stadt eine Menge junger Leute ergriffen habe. Wir wissen, was es mit dieser Verdammung der meisten Leute zu sagen hat, die jedes Gedicht mit dem Verdrusse in die Hand nehmen, daß es ihnen Zeit koste es auszulesen, und nun sogar zum Begreifen einer nicht alltäglichen Idee aufgefordert werden. Eines Tages fiel auch dem Minister eines ihrer Lieder in die Hände, das ihn sehr nachdenkend machte, und woraus wir ein paar Strophen hier mitteilen wollen.


Luftfahrt

Dein Haupt leg nach Morgen,

So fliehen die Sorgen

Und schimmernde Träume

Zu kommen nicht säumen,

Durchstrahlen die Locken

Von Luft umwallt,

Von Vöglein schallt

Ein himmlisches Locken.


1.

»Es tragen dich Flügel

Vom schwellenden Hügel,

Und alles ist offen,

Du schauest betroffen

Unendliche Bläue,

Voll Freundlichkeit,

Voll Zärtlichkeit

Die Erde im Maie.


Hoch über dem Blauen,

Da hast du zu schauen,

Der Sterne Gestalten

In Kreisen da walten;[383]

Erst wandelt mit Schrecken

Der Löwe wild,

Die Jungfrau mild

Will zärtlich dich necken.


Von Sternen strahlt nieder,

Was kräftig und bieder,

Es doppeln die Heere

Sich spiegelnd im Meere,

Sie schreiten, sie ziehen

Voll Göttlichkeit;

Zum höchsten Streit

Die Schwerter erglühen.


Nach Ruhme sie werben

Und können nicht sterben,

Im ew'gen Gesunden

Verschwinden die Wunden;

Sie wünschen sich wieder

Die Sterblichkeit,

Zur Menschlichkeit

Sie sinken hernieder.


In ganzen Geschlechtern

Von stattlichen Fechtern

Verbluten die Götter

Wie tosende Wetter;

Die Erde versinket,

In Blutes Flut,

Des Mutes Glut

In Jammer ertrinket.«


2.

»Die Blumen dich wecken,

Die erst dich bedecken,

Mit fröhlichem Regen

Sich alle bewegen;

Gebadet im Taue

Gestählt die Brust,

Mit neuer Lust

Nun Mensch dich schaue.


Was trittst du auf Sklaven,

Gleich glühenden Laven,[384]

Sie scheinen zu kriechen,

Verzehrend doch siegen;

Was willst du dich kränzen

Mit Bruderblut,

Nein, tue gut,

Die Sonne laß glänzen.


Wie willst du entscheiden,

Was dunkel bei beiden,

Steh dir nicht im Lichten,

Ein andrer wird richten;

Dir singet der Hirte:

O Lorbeerblatt,

Wie bist du platt,

Wie zierlich ist Myrte.


Ich grüß euch, ihr Myrten,

Ach Freunde, wir irrten,

Uns waren die Welten

Zu enge zum Schelten;

Die Ecke der Laube

Voll Düsterkeit

Ist überweit

Der girrenden Taube.


Ihr fröhlichen Seelen,

Euch will ich erwählen,

Die über das Leben

Mit Flügeln entschweben,

Ich möcht euch erdrücken

Mit süßem Kuß, –

Ich will, ich muß,

Ich kann euch beglücken.«


Quelle:
Achim von Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen. Bde. 1–3, Band 1, München 1962–1965, S. 379-385.
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