Zehntes Bild

[702] Als der König und die Königin am andern Morgen nach der Hochzeit aus süßem Schlaf erwachten, waren sie verwundert den Alten noch nicht erwacht auf seinem Ruhebette, noch nicht beim Schreiben zu sehen, vielmehr bemerkten sie die beiden Vögel in großer Tätigkeit auf einem hohen Rosenstocke, der in goldnem Gefäße die Hochzeitkammer schmückte. Die beiden Vögel hatten sich in den Ästen ein Nest geflochten aus seidnen und leinenen Fäden und dasselbe mit goldnen und silbernen Federn gefüttert, die sie einander spielend ausgezogen hatten. Sie ließen sich nicht[702] von der Anwesenheit der beiden Neuvermählten stören, sie grüßten sie und sangen zu ihnen Glückwünschungen und nahmen süßen Mohn vom Munde der Tochter. Dies war der einzige Tag, daß der Alte versäumte in seinen Leib zurück zu kehren, auch war am andern Morgen die seltsame Änderung vorgegangen, daß die silberne Frau ihn nicht mehr so dringend zur Arbeit anmahnte und daß der Alte sich daher mehr seinen Kindern mitteilen konnte. Dennoch schrieb er immer noch viel und die Tochter löschte an jedem Abende alles wieder aus, daß sein Heldenspiel zwar immer schöner, aber nie fertig wurde. Die Mutter war zwar abwechselnd mit dem Neste beschäftigt, aber sie war doch die meiste Zeit um den Vater, der Tochter hingegen schenkte sie weniger Aufmerksamkeit. Eines Tages ging sie aber gar nicht vom Nest, und die Tochter lauschte und nahm endlich wahr, daß die Mutter ein silbernes, mit goldnen Ringen bezeichnetes Ei unter den Federn des Nestes versteckte. So legte der silberne Vogel allmählich zwölf Eier, jeden Tag eins und setzte sich darauf, sie auszubrüten, und wechselte in dieser Arbeit mit dem goldnen Vogel ab, so daß der Alte während seiner ganzen Brütetest nicht in seinen ruhenden, menschlichen Körper, nicht zu seiner Arbeit kam, denn auch während sie brütete, war er emsig beschäftigt, zarte Blumensämereien für sie herbei zu tragen, welche kein Mensch finden kann, wie die klugen Vögel sie finden und sammeln können. Aber auch die Königin rückte während der Brütezeit ihrer Mutter in ihrer Leibessegnung so weit vor, daß sie eines Morgens von einem herrlichen Knaben entbunden wurde. Und kaum war er in die Welt getreten, so entflogen zwölf schöne, kleine, geflügelte Kinder, in der Größe von Kanarienvögeln, mit goldnen und silbernen Flügeln versehen, also ganz so wie Engel geschildert werden, aus dem Neste der silbernen Mutter, sangen den Neugeboren an, liebkosten ihm, spielten mit ihm und reinigten, wickelten ihn mit zärtlicher Sorge, und wehrten ihm die Fliegen und Mücken ab. Sie selbst waren zwar klein, aber doch fertig in allen ihren Kräften in die Welt geflogen und kannten die menschliche Bedürftigkeit nur, indem sie diese andern erleichterten. Das Bild zeigt dort im Hintergrunde das Bette; die Königin, erschöpft von der Mühe, drückt sie dem Könige die Hand und blickt mit Wohlgefallen nach dem Kinde, das im Vorgrunde von den kleinen Engeln gewickelt wird.[703]

Quelle:
Achim von Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen. Bde. 1–3, Band 1, München 1962–1965, S. 702-704.
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