16.

Uber Hohel. 1. v. 14.

Mein freund ist mir ein püschel Myrrhen, der zwischen meinen brüsten übernachtet.

[321] Wie: Jesu deine tieffe wunden.


1.

Wenn vernunfft von Christi leiden

Und von dessen nutzen spricht:

Will sie sich von aussen weiden

Mit dem trost, den sie erdicht.

Oder kommt es hoch, so kan

Sie viel klagens fangen an

Uber Christi pein und schmertzen,

Gleichwol gehts ihr nie von hertzen.


2.

Aber meines Geistes sehnen

Zielt auff die gemeinschafft hin,

Stäts zum sterben zu gewehnen

Den so tieff verderbten sinn.

Hier heng ich den Myrrhen-strauch

Nicht nur auff die brust zum brauch:

In den tieffsten grund der seelen

Soll der Geist die krafft verhölen.


3.

Diß geheimnis wird verborgen

Und als thorheit angesehn:[321]

Aber meine größte sorgen

Sollen auff diß wunder gehn,

Daß nur Christi tod in mir

Durch ersterben für und für

Zu dem leben außgebiehret,

Im gericht den sieg außführet.


4.

Drum such ich den freund im grunde

Meines hertzens, wo er sich

Aus dem sonst verschloßnen munde

Mir einflößt so süßiglich

Seine gantze sterbens-krafft,

Die ein neues wesen schafft:

Als die rosen in dem Lentzen

Nach dem todt des Winters gläntzen.


5.

Wenn ich denn vom Oster-lamme

Mit recht bittern salsen speiß;

Das die heisse liebes-flamme

Selbst in mir zu braten weiß:

Frag ich nicht erst, wer er sey,

Weil ich ihn selbst esse frey,

Und wenns noch an kräfften fehlet,

Ist er mir zu Alls erwehlet.


6.

Diß druckt mich in hoffart nieder,

In betrübnis hälts empor

Gibt in schwachheit stärcke wieder

Aus verzweifflung ziehts hervor,

Hält mich zwischen lieb und leid

In der rechten mässigkeit:

Ja ich find die tieffste stille,

Wenn am creutze hangt mein wille.


7.

O geheimnis-reiche liebe,

Die sich im verborgnen schenckt![322]

Öffne die geheimen triebe,

Wenn mein sinn ans creutz hin denckt:

Keine leidens-krafft von dir

Müsse jemals manglen mir.

Außer mir mag alls vergehen,

Bleibe du in mir nur stehen!

Quelle:
Gottfried Arnold, München 1934, S. 321-323.
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