Ein Sonntagmorgen.

[3] Wir sind im Dorfe. Alles ist still auf der Straße, die Häuser sind verschlossen, da und dort ist ein Fenster offen, es schaut aber Niemand heraus. Die Schwalben fliegen nah am Boden und haben Niemand auszuweichen. Auf dem Brunnentroge am Rathhause sitzen andere Schwalben, trinken und schauen sich klug an und zwitschern miteinander und halten Rath, als ob das Dorf nur ihnen allein gehöre. Vornehme Bachstelzen trippeln herzu und schwänzeln davon und schweigen still, als wollten sie damit kundgeben, sie wüßten schon Alles und noch viel besser. Nur eine Schaar Hühner hat sich um die Schwalben versammelt und lauscht begierig ihren Reden. Sie hören wohl von freiem Wiegen in den Lüften, von Ziehen über's Meer und nach fernen Landen; denn sie heben und dehnen oft ihre Flügel und lassen sie wieder sinken und schauen trauernd auf, gleich als wüßten sie nun wieder aufs Neue, daß sie stets am Boden haften und fremden Schutz bei Menschen suchen müssen. Besonders eine kohlschwarze Henne mit rothem Kamme hebt und senkt ihre Flügel oft und oft. Eine Gluckhenne wandelt[3] das Dorf hinauf, sich stolz prustend im Kreise ihrer Söhne und Töchter, die sie durch stete Ermahnungen um sich versammelt hält und mit ihrem Funde äzt. Sie will nichts von freiem Wiegen in den Lüften, von der Sehnsucht nach der Ferne.

Eine wundersame Stille liegt auf dem ganzen Dorfe.

Die Menschen haben die getrennten Wohnungen verlassen und sich in dem einen Hause Dessen eingefunden, der sie allesammt eint. Die zerstreut schweifenden Blicke, die nur das Eigene suchen, heben sich jetzt vereint zu dem Unsichtbaren, der Alles sieht und dem Alles eigen ist.

Da steht die Kirche auf dem Berge, der einst befestigt war und um dessen Mauern jetzt blühende Reben ranken. Die Kirche war einst die Burg für alle Noth des Lebens. Kann und wird die frei stehende, äußerlich unbefestigte Kirche der freie Hort alles neuen Menschendaseins werden?

Eben verhallt der letzte Ton der Orgel, treten wir ein in die Kirche. Der Geistliche besteigt die Kanzel. Husten und Zurechtsetzen in der ganzen Gemeinde, denn Niemand will den Verkünder des höheren Geistes im Flusse seiner Rede stören.

Der Geistliche ist kein alter Mann, er steht in den besten Jahren. Nicht blos um graue Locken schwebt die Glorie der innern Befreiung von Eigensucht; die Milde mögt ihr da wol öfter finden, aber oft nicht mehr jenen lebendigen Feuereifer für die Menschheit. Der Glaube an den Himmel hat oft den Glauben an die Erde verdrängt.[4]

Nachdem der Geistliche still, in sich zusammengeschauert, verhüllten Antlitzes das leise Gebet gesprochen, erhob er freudig sein Haupt und sprach den Text: »Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.« Lucas 5, 31.

Er zeigte zuerst, wie die geistige Gesundheit das wahre Leben, wie sie eins ist mit Tugend und Rechtschaffenheit; Sünde und Krankheit dagegen das Leben verunstaltet. Gleichwie in der Krankheit die natürlichen Kräfte des Menschen einen falschen Weg genommen, so auch in der Sünde. Denn Sünde ist Verirrung. Mit besonderem Nachdruck hob er dieses Letztere wiederholt hervor und ermahnte zur milden Betrachtung des Sünders, zur Pflege für seine Heilung. Er zeigte, wie leicht die Sünde einen Schlupfwinkel findet im verschlungenen Geäder des menschlichen Herzens, um bald als Leidenschaft, bald als listige Bethörung Alles aus dem Wege des Rechten zu verdrängen. Denn es ist kein Mensch, der nur Gutes thäte und nicht sündigte. Er zeigte, wie erquickend es ist, uns das tröstliche Bild des reinen Menschen ohne alle Sünd' und Fehle zu vergegenwärtigen, der uns vorschwebt, um alle Schuld zu tilgen, indem er uns anleitet, ihm nachzufolgen. Er zeigte, wie darum Jeder, der in irgend einer Weise sich von Sünde rein fühle, in dieser theilweisen Reinheit die Verpflichtung habe, der Erlöser des Andern, des in Sünde Versunkenen zu werden. Er muß dessen Fehl auf sich nehmen und zu sühnen trachten.

»Ihr Alle,« sprach er dann, »ihr Alle, die ihr in[5] Freiheit wandelt, die ihr an euerm Tische sitzt und ungehindert hinausschreitet unter Gottes freien Himmel – gedenket einen Augenblick des armen Eingekerkerten, auf dessen Antlitz seit Jahren kein Blick der Liebe geruht. Da sitzt er, und sein Auge starrt hin nach den steinernen Mauern, seine Worte prallen ungehört zurück. Und wenn er hinausgeführt wird unter seine Genossen, welch eine traurige Gesellschaft!

Die große menschliche Gesellschaft hat ihn einsam seiner Noth, seiner Verzweiflung, seinem Irrthum überlassen; keine hülfreiche Hand bot sich ihm dar, kein liebreiches Wort beschwichtigte seine Seele. Er stand vielleicht allein, allein mit seinem verworrenen Herzen. Erst als er der offenkundigen Sünde verfiel, erst da merkte er's, daß er nicht allein sei; die menschliche Gesellschaft faßte ihn mit gewaltigen Armen und hielt ihn zur Sühne fest.

Und wenn er nun wieder zurückkehrt unter die freien Menschen, was ist sein Loos? Die früher keinen Blick auf ihn richteten, sehen jetzt mit Verachtung, mit Mißtrauen oder unthätigem Mitleid auf ihn herab und verfolgen ihn auf Schritt und Tritt. Was soll aus ihm werden?

Du, der du hier in Freiheit sitzest, frage dich: wie oft du nahe daran warst, ein Verbrecher zu werden, wie nur die höhere Macht, die in dich gepflanzt ist und über dich herrscht, dir die Werkzeuge des Verderbens entzog und aus der Hand nahm. Darum hab' Mitleid mit dem Sünder, leide mit ihm, opfere dich für ihn, und es wird dir vergeben.«[6]

Dies und noch vieles Andere sprach der Pfarrer mit tiefer Erschütterung. Er wagte einen gefährlichen, aber zur lebendigen Eindringlichkeit doch oft nothwendigen Versuch und stellte sich selbst mitten in die Betrachtung, indem er erzählte:

»Ich wurde als armer Schüler eines Mittags im Hause eines Reichen gespeist. Sonst litt ich die bitterste Noth. Da stand ich nun allein im Speisezimmer und wartete bis zur Essenszeit. Um mich her glitzerte und schimmerte das Silbergeräth, es flimmerte mir vor den Augen, wie wenn ich berauscht wäre. Plötzlich blitzt mir der Gedanke durch die Seele: nur einige solcher Stücke können deiner Noth auf lange abhelfen, und – Niemand sieht dich. Ein unwiderstehlicher Reiz zog mich zum Korbe hin, wo das Silber aufgeschichtet lag; ich griff hinein, wie wenn jemand meine Hand hineinstieße. Da war mir's aber plötzlich, als könnte ich meine Hand nicht bewegen, ich konnte nicht lassen und nicht nehmen. Der Angstschweiß rann mir von der Stirn, und ich schrie laut: Hülfe. Hülfe! Ich wollte Menschen herbeirufen, um durch sie von der Sünde abgezogen zu werden. Ein alter Diener eilte herzu, und ich erzählte ihm weinend Alles. Er tröstete mich in meiner unbeschreiblichen Pein und hat in der Folge selbst und durch Andere dafür gesorgt, daß ich keine Noth mehr litt.«

Die Bemerkungen, die der Pfarrer hieran knüpfte, und die Aufforderung, daß jeder in gleicher Weise die Versuchungen seines Lebens sich vergegenwärtige, gingen unmittelbar an's Herz. Bei der längern Pause, die er[7] jetzt machte, sah er manche gefaltete Hände zittern, Manchen hinter dem vorgehaltenen Hute sein Antlitz bergen, manche Hand eine Thräne aus den Augen wischen, die dann wieder leichter aufschauten. Keiner aber blickte auf den Andern, Jeder hatte genug mit sich zu thun.

Nach dem Schlußgebet erzählte der Pfarrer in schlichtem Tone: »Es hat sich in der Hauptstadt ein Verein von wohldenkenden Männern gebildet, der sich die Aufgabe stellt, für das Fortkommen und die Besserung Derer zu sorgen, die aus den Straf- und Arbeitshäusern entlassen werden. Das ist ein heiliges und gottgefälliges Werk. Wer beitreten und mitwirken will, kann nach der Mittagskirche zu mir kommen und das Nähere erfahren. Besonders aber möchte ich euch bitten, daß Einer oder der Andere von Euch solch einen Entlassenen als Knecht oder Magd zu sich in's Haus nehme. Ich brauche euch nicht zu ermahnen, daß ihr die Gefallenen nicht gar zu zärtlich und weichherzig behandeln sollt. Wir kennen einander. Ich fürchte nicht, daß ihr allzugroße Sanftmut habt.«

Ein Lächeln zuckte auf den Angesichtern der Versammelten, das aber die Andacht nicht niederdrückte, sondern eher hob. Der Pfarrer fuhr nach kurzem Innehalten fort:

»Ihr müßt euch aber genau prüfen, ob ihr die Kraft in euch fühlt, diese Gefallenen liebevoll zu behandeln; denn ein Unglücklicher bedarf doppelter Liebe, und zwiefach gesegnet ist, der sie zu geben vermag. Der Herr erleuchte und erhebe euern Sinn und[8] begnadige uns Alle, daß wir uns nicht in Sünde verirren. Amen.«

Als die Kirche zu Ende war, drängte sich Alles mit ungewohnter Hast heraus. Viele reckten und streckten sich, als sie die Thüre hinter sich hatten; die Predigt hatte sie so gepackt, daß sie sich in allen Gliedern wie zerschlagen fühlten; es war ihnen schwül geworden, und sie holten jetzt wieder frei Athem.

Allerlei Gruppen bildeten sich. Da und dort sprach man alsbald von verschiedenen Dingen, die Meisten von der Predigt und dem rechtschaffenen Pfarrer. Der Webermichel aber behauptete, er predige nicht genug aus Gottes Wort, und der Bäck, der, wenn seine Frau nicht dabei war, auch gern etwas drein redete, bemerkte gar pfiffig, er habe bald gemerkt, zu welchem Loch der Pfarrer hinaus wolle. Ein muthwilliger Bursche raubte einem Mädchen den Strauß von Gelbveigelein und Rosmarin vom Busen, schrie dabei: »Hülfe! Hülfe!« und rannte mit der Beute davon.

Sonst aber hallten in den meisten Gemüthern noch die vernommenen Worte nach.

Konrad, der Adlerwirth, ging still dahin und redete kein Wort; er hielt auf dem ganzen Wege den Hut in der Hand, als wäre er noch in der Kirche. Bärbele war ihrem Manne vorausgeeilt, um den Mittagstisch herzurichten. An einem andern Sonntage wäre es nicht ohne Hallo abgegangen, wenn wie heute das Essen nicht gleich nach der Kirche fertig gewesen. Jetzt aber legte Bärbele, ohne ein Wort zu sagen, Gesangbuch und Rosenkranz auf den Fenstersims (denn man[9] braucht beides heute Mittag nochmals), zieht seinen Mutzen (Jacke) aus und hilft der Magd ohne ein »Schelterle« das Essen fertig machen.

Man saß endlich wohlgemuth bei Tische, und es schmeckte Allen wohl, denn wenn ein reiner Gedanke durch die Seele gezogen, ist es, als ob der ganze Mensch wie mit frischem Leben durchströmt wäre; jede Speise, die er zum Munde führt, ist wie gesegnet, man ist mit Allem froh und zufrieden. Wo ein guter Geist mit zu Tische sitzt und in den Menschen lebt, da wandelt er das Wasser des Alltagslebens in duften den Festwein.

In wie viel tausend Kirchen wird allsonntäglich mit hochgezwängter Stimme gepredigt, aber wie selten ertönt ein reinerer Klang, der, aus der Tiefe kommend, in den Tiefen der Herzen nachhallt!

Es ist aber auch bekannt, wie oft die Menschen, wenn sie gesättigt sind, eine ganz andere Sinnesart haben, als da sie noch hungrig waren.

Und da es auch gut ist, daß man nach Tische eine Weile ruht, so wollen wir die Folgen der Frühpredigt erst nach einer Pause weiter betrachten.

Quelle:
Berthold Auerbach: Gesammelte Schriften, 2. Gesammtausgabe, Band 3, Stuttgart 1863, S. 3-10.
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