Sechzehntes Kapitel.

[136] Im Winter auf 47, in dem Brosi sechsundsiebenzig Jahr alt wurde, fühlte er sich zum Erstenmal in seinem Leben nicht geheuer; er behauptete es habe ihn »ein Frost gestoßen,« er gönnte sich aber doch keine Ruhe, er war eben, was man einen Schaffmann nennt: so lange er fort konnte entzog er sich keiner Arbeit; aber bald ließ er die Dose stehen und schnupfte nicht mehr, das war für Moni das sicherste Zeichen, daß es etwas Ernstliches war. Er mußte zu Bett und bald zeigte sich, daß er einen mächtig geschwollenen Fuß bekam und zum Erstenmal kam ihm der Arzt über die Schwelle, aber noch jetzt erlustigte er sich an seiner Krankheit und sagte oft: »Es ist nicht mehr als billig, ich muß auf dem Kubikfuß leben, es geschieht mir recht. Verbind' mir meinen Kubikfuß,« rief er dann seiner Moni.

Alles hatte bei ihm ein heiteres Gepräge und er lachte noch jetzt oft, daß man es die ganze Gasse hinab hörte. Er mußte wochenlang liegen, aber seine Heiterkeit schwand nicht, nur manchmal sagte er: »Der Severin muß doch auch wissen, daß ich jetzt ein guter Siebziger bin; wenn er kommen will, hat er nichts mehr zu versäumen.«

Eine große Freude hatte Brosi durch einen Gruß, den ihm die Gipsmüllerin sagen ließ; sie war auch[136] krank und ließ Brosi sagen, in stillen schmerzlosen Stunden müsse sie immer daran denken, wie lustig sie auf der Hochzeit ihres Bruders, des Furchenbauern, den Bändelestanz mit ihm getanzt habe und sie höre noch immer die Musik aufspielen.

Jedem, der ihm einen Krankenbesuch machte, erzählte Brosi diese freudige Botschaft und als er wieder gesund war, wollte er seinen ersten Gang nach der Gipsmühle zu seiner Tänzerin machen; aber man hielt ihn davon ab und in's Herz hinein fühlte Brosi die Nachricht, daß sie bereits gestorben und begraben sei. Eine Jugendfreundin und langjährige Genossin war ihm plötzlich entrückt, es waren ihm schon viele langgewohnte Gestalten dahingerafft worden, er hatte es leicht verwunden; aber jetzt mit einer gewissen Feinfühligkeit des Genesenden empfand er den Schmerz doppelt, es gemahnte ihn, daß der Tod doch immer näher rücke und ihm schon unentbehrlich scheinende Stücke aus dem Leben reiße. Er ging tagelang still den Kopf schüttelnd umher, und als er zum Erstenmal nach der Gipsmühle kam, weinte er mit dem verlassenen Gevatter.

Er hatte die Freude eines andern Hauses mitgenossen, er nahm auch dessen Leid auf sich.

Aber wieder und wieder erwachte der helle Frohsinn in Brosi, und als er einmal mit seiner Moni im Walde zu Mittag aß, sagte er:

»Du wirst nichts dagegen haben. Wenn ich 'nüber komm, bitt' ich mir's aus, daß mir die Posaunen-Engel einen Vortanz für mich und die Gipsmüllerin aufspielen.«[137]

Die Lustigkeit schien in Brosi gar nicht abzutödten.

Der März 48 brachte dem abgelegenen Haldenbrunn seine Revolution so gut wie Berlin und Wien. Schultheiß und Gemeinderath wurden gestürzt und ein neuer gewählt, Brosi wurde einstimmig zum Gemeinderath erwählt, er wäre Schultheiß geworden, wenn er dieß nicht abgelehnt und die Stimmen auf seinen verschwägerten Jörgtoni gelenkt hätte. Die verkümmerte Nutzung des Gemeindewaldes, den der Gemeinderath für sich ausbeutete, war wesentlicher Grund der Revolution, und auf Brosi, der allzeit ein gerechter Mann und Niemand zulieb und Niemand zuleid redete, setzten besonders die armen Häusler ihre Hoffnung. Er war mit Einem Worte der Märzminister von Haldenbrunn und hörte es gern, wenn man ihn »Herr Gemeinderath« anredete. Auch Moni war diese neue Würde nicht ungenehm, sie ging am ersten Sonntag mit ihrem Mann in die Kirche und hatte sich noch dazu vom Näherlisle eine neue Jacke machen lassen, wozu sie das Zeug längst bereit hielt, es aber für die Hochzeit ihres Franz aufbewahren wollte. Vor der Kirche grüßte Moni alle Leute doppelt freundlich, und in derselben schaute sie oft nach den vorderen Bänken. Da, wo der Gemeinderath sitzt, dort saß ja ihr Brosi; die arme verstoßene Tochter des Apothekerrösle hatte einen Mann, der auf der ersten Kirchenbank saß. Als man sich zu Tische setzte, sagte Brosi in sehr verbindlichem Ton, einen Kratzfuß machend:

»Frau Gemeinderäthin, wollen Sie nicht auch gefälligst[138] Platz nehmen?« und trieb noch allerlei muthwilligen Scherz mit ihr.

Moni sagte, ihr Mann müsse sich einen neuen Rock machen lassen, es schicke sich nicht mehr, daß er in dem alten Rock einhergehe, den er sich schon zur Taufe ihres jüngsten Sohnes (sie vermied, wie es schien, mitten in der Freude den Namen Severins) hatte machen lassen. Brosi schüttelte den Kopf und sagte: »Wenn nur meine Knochen so lang halten, als der Rock noch hält; und man hat den Brosi im alten Rock gewählt, nicht den im neuen.«

Der noch immer unerklärte blinde Franzosenlärm brachte auch in Haldenbrunn eine Bürgerwehr zu Stande, die sich vorerst mit gestreckten Sensen bewaffnete. Der Revierförster Auerhahnwirth wurde natürlicherweise Leitmann und Brosi's Kilian wurde zum Obmann und Uebungsmeister gewählt, er hielt seine Uebungen auf der Straße, die nach Endringen führt.

Im Auerhahn war jetzt täglich große Zusammenkunft; die Tischordnung galt hier noch mitten in allen Wirrnissen, nur saß Brosi als Gemeinderath bei den Großbauern. Wenn Manche erschracken über die wilden Reden, die geführt wurden, beschwichtigte er mit der klugen Einrede, daß man ja einander kenne und noch immer wisse, daß es nicht beim ersten Anbot bleibt, man ließe noch etwas abhandeln. Wenn die jüngeren Leute von deutscher Einheit sprachen, sagte er oft:

»Was wisset Ihr davon? Da können Wir mit reden, Uns gedenkt es noch, daß Endringen und Haldenbrunn zusammen gehört haben.«[139]

Im Gemeinderath war Brosi ein eifriges und bedachtsames Mitglied, und er war es auch, der sich dem Andringen Vieler entgegenstemmte, daß man den Gemeindewald verkaufe und den Erlös vertheile. Er mußte sich deßhalb manche üble Nachrede gefallen lassen und es hieß, er sei eben auch wie die Anderen, seitdem er da oben sitze; aber er ließ sich's nicht verdrießen, jedem Einzelnen seine Gründe darzulegen, und die sich einer besseren Einsicht nicht verschlossen – und deren war doch die Mehrzahl – gaben ihm Recht.

Brosi vollführte seine Arbeit nach wie vor. Er war kein großer Politiker und rühmte sich auch dessen nicht, aber er sagte doch immer: »Von der Freiheit kann man nicht essen, man muß arbeiten, sei die Regierung, welche sie woll'; das Holz spaltet sich in einer Republik auch nicht allein auf; aber freilich, schaffen und schaffen ist ein Unterschied, und der rechte Lohn gehört einem Jeden.«

Die Revolution im Badischen brachte Brosi vielen Kummer, denn die Reibereien zwischen den Endringern und Haldenbrunnern gediehen auf's Höchste, die Haldenbrunner wurden immer »faule Schwaben« geschimpft. Dazu lebte noch Brosi's Schwiegersohn, der Petersepp, bei seinem Schwäher verborgen im Walde.

Die Reaction brachte aber Brosi nicht minderen und noch weit tiefer gehenden Kummer. Es war nicht der Schmerz um die vereitelten Hoffnungen des Vaterlandes, die ihm zu Herzen gingen, er hatte sie nie recht begriffen und nur immer gedacht, Haldenbrunn und Endringen sollten wieder Eins werden. Es war ein[140] ganz Anderes, was Brosi tief betrübte: die Verordnung, daß am Sonntag nicht mehr auf der Straße gesungen werden durfte, die Einsetzung des Sittengerichtes der Pfarrgemeinderäthe, wozu man ihn auch wählen wollte, was er aber entschieden ablehnte, vor Allem aber jene hochweise fürsorgliche Verordnung, daß fortan alle Kirchweihen im ganzen Lande auf Einen Sonntag festgesetzt wurden, so daß aller nachbarliche Besuch abgeschnitten war. Zwar lag Haldenbrunn so an der Grenze, daß man meist badischen Besuch erwartete und dieser kam auch reichlich, da jenseits im glückseligen Belagerungszustande keine Musik gehalten werden durfte; aber man stand doch auch mit Landesangehörigen in Verbindung, und wenn man auch das Verbot umging, daß man doch noch eine stille Feier veranstaltete und der hohen Fürsorge nun eine doppelte Kirchweih verdankte, es war und blieb doch mißlich.

Vom Gemeinderath in Haldenbrunn, in dem Brosi noch saß, ging eine Eingabe an die hohe Regierung um Aufhebung der Kirchweihordnung; aber sie ging nur bis in die Amtsstadt und ist dort selig entschlafen.[141]

Quelle:
Berthold Auerbach: Gesammelte Schriften, 2. Gesammtausgabe, Band 6, Stuttgart 1863, S. 136-142.
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