X. Das Zaunköniglein, eine Fabel. – Der Teufel und der Bauer, ein Schwank. – Die zwei Brüder, ein Mährchen.

[234] Die Kinder hatten bereits den Tisch verlassen, um auf dem weiten und breiten Söller zu spielen; denn das unfreundliche Wetter hielt sie ab, sich im Freien herum zu tummeln. Die übrige Gesellschaft saß noch beisammen; der Großvater nahm sein Pfeifchen zur Hand, die Frauen ihr Näh- und Strickzeug.

Da nahm der Vater das Wort und sagte: »Die Mutter mag sich nun Zeit nehmen, um auf eine Geschichte zu sinnen, die sie uns heut Abends vortragen mag. Denn ohne irgend eine Erzählung darf wohl der Tag nicht vorbei gehen, und die Natur, die uns heute von ihren Freuden ausschließt, gemahnt uns selbst an die Freuden, welche die gesellschaftliche Unterhaltung verschafft. An der Mutter ist nun aber die Reihe, und sie wird sich von der Verbindlichkeit,[234] die wir alle eingegangen, um so weniger ausschließen können, da sie mehr Zeit als wir übrigen gehabt hat, auf etwas Anziehendes und Zweckmäßiges zu denken, und auch mehr Gelegenheit, an fremden Mustern abzusehen, wie für Kinder erzählt werden solle.«

Die Mutter erwiederte: »Ihr alle wißt, wie viel mir die Haushaltung auch auf dem Lande hier zu schaffen macht, und daß ich nicht, wie ihr übrigen, die ihr den lieben Tag hindurch nichts zu thun habt, auf Fabeln und Mährlein denken kann. Die Muse ist nur der Muße günstig. Darum erlaßt mir nur lieber gleich immerhin die Verbindlichkeit, die ihr mir auferlegen wollt, und bedenkt, daß eine arme bedrängte Frau nicht zugleich für körperliche und geistige Nahrung sorgen kann.«

Diese Einrede wurde aber weder von den Frauen noch von den Männern angenommen, sondern entschieden zurück gewiesen. Der Onkel erinnerte insbesondere, daß so viele, wohl auch wackere Hausfrauen Zeit genug gefunden hätten, durch Schriften sich fühl-und achtbar zu machen, geschweige denn durch mündliche Unterhaltungen, zu denen die, den Frauen angeborne, geläufige Zunge immerhin noch Stoffes genug zu finden pflege.

Des Onkels neckende Bemerkung vereinigte die[235] Frauen zu einem Schutz- und Trutzbündniß, und die Tante erwiederte lebhaft: »Was von unserer Seite bisher vorgebracht worden, hat doch das Verdienst eigener Erfindung oder lebendiger Ueberlieferung, während das, was wir von den Männern gehört, laut ihrem eigenen Geständnisse, nicht ihnen und ihrem Geiste angehört, sondern den Büchern, woraus sie bettelnd geschöpft.«

»Rühme dich nur nicht – versetzte der Onkel – deiner Erzählung wegen; sie hat bereits eine ganz gerechte Recension gefunden.«

»Wohl von dir! – entgegnete die Tante –. Denn ich weiß, leider! daß du gar so gern alles tadelst, was ich in dergleichen Dingen für die Jugend zweckmäßig finde.«

»Von mir wahrlich nicht – versetzte der Onkel –; es war aber, sag' ich dir, eine ganz angemessene, klare, wahre, unbefangene, kurz gefaßte, derb ausgedrückte Recension – – Der Fritz, auf den deine Erzählung eigentlich gemünzt war, er fing an, während derselben einzuschlafen, und vernahm das Wenigste, und vollends von der Nutzanwendung gar nichts.«

»Der Range! rief die Tante aus: Er ist eingeschlafen, sagst du?«[236] »Das wohl nicht – entschuldigte die Großmutter – er nickte bloß ein wenig, – so so« ...

»Aber gewiß nicht zum Beifall, versetzte der Onkel. Um es kurz zu sagen: die Erzählung machte ihm Langeweile; und unter solchen Umständen ist freilich der Schlaf eine wohlthätige Erquickung, ein wahres Labsal, ein unschätzbares Geschenk der Natur.«

»Deine Erzählungen freilich – sagte die Tante, indem sie die Neckerei lebhaft fortsetzte – sie halten wohl leicht den Buben wach, weil sie seinen Unarten schmeicheln, und seinem Aberwitz Nahrung verschaffen. Deine alberne Geschichte von gestern z.B. hat ganz seinen Kopf eingenommen, und er lebt, glaub' ich, träumend und wachend in ihr.«

»Das wäre allerdings die günstigste Recension für dieselbe,« unterbrach der Onkel.

»Heut Morgens – fuhr die Tante fort – statt mir einen guten Morgen zu wünschen, was thut er? er kommt mir muthwillig mit dem Gruß entgegen: Bons Dies, Hans!«

»Nun, sagte der Onkel, und du hast ihm doch höflich erwiedert: ›Dei Grats, Hans?‹«

»Ich kann dich wahrlich nicht begreifen – sagte die Tante, fast ärgerlich – wie du in solcher Mähre etwas Lehrreiches für Kinder finden magst.«[237] »Lehrreiches? – erwiederte der Onkel – muß denn alles eben lehrreich seyn? Ist denn das Ergötzliche nicht eben so viel werth, unter gewissen Umständen, und noch mehr werth, als das Lehrreiche? Hat nicht alles seine Zeit, das Weinen und das Lachen, so auch der Ernst und der Scherz, die Lehre und die Posse? – Lehrreich soll alles seyn? sagst du. Wohlan! meine Geschichte ist allerdings lehrreich, (fuhr er mit verstelltem Ernst fort). Erstens übt und stärkt sie die Auffassungskraft und das Gedächtniß, zwei Seelenvermögen, die nicht vernachlässigt werden dürfen, will man anders, nach achtbarer Philosophen Meinung, den Menschen zum Menschen erziehen. Zweitens wird an solchen Exempeln der Sprachunterricht unglaublich befördert! wie mir jeder praktische Philolog Recht geben wird; denn eben das Regelgerechte, wo könnte es klarer nachgewiesen werden, als in dem Fehlerhaften? Drittens – –«

»Schon genug! – unterbrach die Mutter. – wenn die Männer ins Kritisiren und Spintisiren gerathen, so finden sie kein Ende, und wollen trotz allen vernünftigen Widerreden, zuletzt doch immer Recht behalten. –«

»Gerade so, mit Vergunst! wie die Frauen« – sagte der Onkel.

»Fahrt ihr aber so fort – sagte die Mutter, –[238] unsere anspruchlosen Geschichten nach eurem strengen literarischen Maßstabe zu messen, so werde ich mich wohl hüten, euch etwas zum Besten zu geben, aus Furcht ihr möchtet mich, wohl gar hinterrucks, zum Besten halten. Denn – woran ich wohl schon nebenbei gedacht habe – was würdet ihr zu einem Mährchen sagen, das zugleich eine Legende in sich faßte? Müßte es euch, gestrengen Kunstrichtern, nicht als ein Gräuel, als eine poetische Mißgeburt erscheinen?«

»Es würde uns – sagte der Onkel verbindlich – als ein goldener Ring erscheinen, der einen Demanten in sich trägt.«

»Dieses vorläufige Urtheil eines sonst eben nicht sehr nachsichtigen Kritikers – erwiederte die Mutter – gibt mir Muth, der Sache weiter nachzudenken, und das Gebilde, so viel in meinen Kräften liegt, ganz auszuführen, und wohl zu gestalten. Dermalen aber noch, und schon heute, bin ich nicht im Stande, den Anmuthungen der herausfordernden Gesellschaft zu entsprechen. Wohl aber glaube ich, man könnte füglich die Männer in Anspruch nehmen, daß sie die Kinder während der Abendstunde mit Histörchen unterhalten, denn es bedarf ja von ihrer Seite nur eines Blickes in die Bücher, die sie, meineidiger[239] Weise, sich angeeignet, um mehr als hinlänglichen Stoff für die Abendunterhaltung zu finden.«

»Eines Blickes – sagte der Vater – hast du dich doch auch erst heute Morgens gewürdigt, in die kostbare Legende, die ich in jenem Winkel aufgefunden.«

»Ich will es nicht läugnen – versetzte die Mutter – und der Moder, der mich daraus anroch, steckt mir noch in der Nase.«

»Ermesset denn, ihr Frauen – sagte der Onkel – welche Ueberwindung, welche Aufopferung es von unserer Seite kosten mag, Fremdes uns anzueignen, während ihr alles dieß, und noch mehreres, so gar leicht, ohne Anstand und Widerstand, als Eigenes erfindet und darstellet, wie z.B. eine Geschichte vom Thierquäler.«

Nachdem man sich so einige Zeit lang in scherzhaften und neckenden Reden und Widerreden erheitert hatte, so haben sich zuletzt, auf Zudringen der Frauen, die Männer doch herbei gelassen, für die Abendunterhaltung Sorge zu tragen. – Der Großvater sagte: Er wolle sich der gnädigen Erlaubniß der Damen bedienen, und wieder aus dem, in Schweinsleder gebundenen Buche eine Erzählung, ein Ostermährlein, auslesen und vortragen, etwa –[240] damit doch wieder auch eine Fabel aufs Tapet komme – die Geschichte »vom Zaunköniglein, oder: wie die Vögel einen König wählen.« – Der Vater sagte: Dieß Mal wolle er sich eines Plagiats enthalten, obwohl er freilich nicht wisse, ob es doch nicht etwa ein Plagiat sey, denn die Menschen von Heute hätten doch das Meiste, wo nicht Alles von den Menschen von Gestern, und das Neue sey eben immer das Alte, wie Salomon sage. Der Held seiner Geschichte aber sey niemand anders, als der Teufel, der von einem Bauern überlistet wird; übrigens ein ganz dummer Teufel, der also weder Frauen noch Kindern einen besondern Respect, geschweige eine Furcht einflößen könnte. – Der Onkel endlich sagte: er habe ein Mährchen im Sinne, das er, an verschiedenen Orten, auf verschiedene Art gehört, und nun, nach eigner Weise, zusammen zu stellen und vorzutragen sich vorgenommen hätte.

Am Abend, zur festgesetzten Stunde, indem die ganze Familie versammelt war, schickten sich die Männer an, ihre Geschichten, der Reihe nach, zu erzählen.


* * *
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Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Büchlein für die Jugend. Stuttgart/Tübingen/München 1834, S. 234-242.
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