Das Mährchen von der neugierigen Frau.

[173] »Es war einmal ein Mann und eine Frau, die lebten recht gut mit einander; und eines wußte, was das andere that. Aber alle Mittwoch mußte sie am Rad spinnen, und er schloß sich daneben in ein Zimmer ein. Da wollte die Frau wissen, was er drinn mache; aber er sagte ihr das nicht. Eines Tages, wo er wieder im Zimmer war, und sie am Rädchen spann, da konnte sie die Neugierde nimmer unterdrücken; und sie sprang auf, und guckte durchs Schlüsselloch, zu sehen, was ihr Mann drinn mache. Da sah sie mit Grauen, wie seine Haare brannten, gleich feuriger Lohe, und seine Augen funkelten, wie[173] Glas, und zwischen den Fingern hatte er einen blutigen Knochen, an dem nagte er, und spielte Ball mit eisernen Kugeln an Ketten, die klirrten. Da wurde es ihr anders, und sie konnte nicht mehr das Rädchen treiben vor lauter Schrecken. Jetzt kam der Mann heraus, und fragte: Warum spinnest du nicht? Da konnte sie sich nimmer verstellen, und sagte: Ach, Mann, ich habe durch das Schlüsselloch gesehen. Es fragte der Mann weiter: Warum bist du so blaß und zitterst so? Sagte sie: Ach, Mann, ich habe gesehen, wie deine Haare brannten, gleich feuriger Lohe, und wie deine Augen funkelten, wie Glas; und ich sah, wie du einen blutigen Knochen zwischen den Fingern hattest, und an ihm nagtest. Da holte der Mann aus dem Zimmer den Knochen, und schlug damit die neugierige Frau todt.«


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Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Büchlein für die Jugend. Stuttgart/Tübingen/München 1834, S. 173-174.
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